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24.07.2001Neue Zürcher ZeitungIrène Troxler«Nimmst du Bora Bora? - Dann nehm ich den Schongau»

«Nimmst du Bora Bora? - Dann nehm ich den Schongau»

Nachts auf Draht für medizinische Notfälle auf der ganzen Welt

Bei der Firma Medicall AG in Brüttisellen laufen die Notrufnummern verschiedener Krankenkassen zusammen. Wenn jemand im Ausland einen Unfall hat, klärt die Firma ab, welche medizinischen Leistungen die Kasse bezahlt, und organisiert den Rücktransport des Patienten in die Schweiz. Eine Nachtschicht mit Dieter Kaufmann.

22 Uhr 30: Schichtwechsel. Die Einsatzleiterin der Spätschicht übergibt Dieter Kaufmann und Andreas Kirsch für die Nachtschicht einen Stapel pendenter Fälle. Ausnahmsweise ist die Nachtschicht doppelt besetzt, denn es ist der erste Montag nach Ferienbeginn. Erfahrungsgemäss läuft dann besonders viel. Die beiden Männer teilen die Dossiers unter sich auf: ein Tauchunfall in Costa Rica, eine Panikattacke in Spanien, Herzprobleme in Bora Bora, ein Hirnschlag im Schongau, Hüftschmerzen nach einem Sturz in Sizilien und so weiter. Vor allem bei den Destinationen in Übersee ist die Nacht wegen der Zeitverschiebung der beste Zeitpunkt für telefonische Abklärungen.

Vorläufig bleibt das Telefon ruhig. Dieter Kaufmann hat Zeit, die Dossiers anzuschauen und Fehler in der Pendenzenliste zu korrigieren. Der Agent in Zentralamerika, mit dem Medicall zusammenarbeitet, hat einen Fax mit Informationen über den Tauchunfall in Costa Rica geschickt. Der Patient war bereits in der Dekompressionskammer, aber es ist unklar, wie es ihm geht und wie lange die Behandlung noch dauert. Ausserdem scheint das geforderte Ärztehonorar unverhältnismässig. Kaufmann greift zum Telefon und erkundigt sich in einwandfreiem Spanisch nach dem Patienten. Ohne Erfolg: Im Spital wurde er entlassen, und im Hotelzimmer ist er nicht. «Versuchen wir's bei einem anderen», sagt er und greift zum nächsten Dossier. Aber auch in Bora Bora hat er kein Glück. Kaufmann schmunzelt: «Das kommt vor. An einem Tag sind die Leute todkrank und verlangen sofort einen Jet nach Hause. Und am nächsten Tag sind sie bereits wieder auf der Piste.»

Die Firma Medicall unterhält verschiedene Notfallnummern für diverse schweizerische und ausländische Krankenkassen. Wenn jemand, der in der Schweiz versichert ist, im Ausland zum Arzt oder ins Spital muss, klärt die Einsatzzentrale ab, welche medizinischen Leistungen die Kasse übernimmt. Im Auftrag ausländischer Kassen erledigt sie das Gleiche für in der Schweiz erkrankte Ausländerinnen und Ausländer. Wenn nötig, organisiert Medicall den Rücktransport der Patienten unter medizinischer Aufsicht oder die Rückführung Verstorbener. Manchmal treten die Mitarbeiter allerdings auch als Troubleshooter anderer Art in Aktion. Zum Beispiel, wenn die Angehörigen des Erkrankten mit einer Situation überfordert sind. Dieter Kaufmann arbeitet seit drei Jahren für Medicall. «Manchmal ist es belastend, was man alles zu hören bekommt. Im letzten Jahr mussten wir 90 Todesfälle bearbeiten.» Es komme ab und zu vor, dass ein Anrufer die Nerven verliere. Dann müsse man sachlich bleiben und ihm das Gefühl vermitteln, dass sein Problem in guten Händen sei. Den Mitarbeitern werden hohe soziale und kommunikative Kompetenzen abverlangt. Manchmal bedanken sich Patienten aber auch mit einer Schachtel Pralinen oder mit einem Zustupf für die Kaffeekasse.

Dieter Kaufmann ist diplomierter Umweltwissenschafter. Die Stelle bei Medicall hat ihn gereizt, weil er gerne reist und den Kontakt mit Menschen aus der ganzen Welt schätzt. Bei Medicall muss jeder Mitarbeiter auch nachts arbeiten. Kaufmann macht dies nicht viel aus: «Ich schlafe auch am Tag wie ein Baby.» Allerdings sei es schwieriger, den Kontakt zu Freunden aufrechtzuerhalten. Vor allem, weil er auch oft am Wochenende arbeitet.

Kurz nach Mitternacht: ein Anruf aus Teneriffa. Die Reisepartnerin der Anruferin ist schwer erkrankt, beide Frauen wollen sofort nach Hause. Da sie entsprechend versichert sind, organisiert Medicall den Rückflug. Dieter Kaufmann nimmt es in die Pendenzenliste für den Tagdienst auf. Dann bereitet er einen Fax an die Vertrauensärzte vor. Bei verschiedenen Patienten muss abgeklärt werden, ob sie transportfähig sind und welche medizinische Überwachung dabei notwendig ist.

2 Uhr 30: Nachtessen. Weder Sandwiches noch Pizza vom Kurier. Nein: Spaghetti mit frisch zubereitetem Sugo und Tomaten-Mozzarella-Salat mit echtem Buffala-Käse und Basilikum. Kollege Andreas Kirsch hat sich Zeit genommen zu kochen. Beide wundern sich, dass es so ruhig ist, und kommen ins Erzählen. Zum Beispiel von einem Fall in Indien: Eine Töfffahrerin wurde Opfer eines gestellten Unfalls. Sie erlitt nur leichte Verletzungen, erhielt dann aber horrende Geldforderungen vom angeblichen Opfer und vom beteiligten Polizisten. Medicall habe die Rückkehr der Frau früher als geplant organisiert, um sie vor weiteren Repressalien zu schützen.

Am meisten mitgenommen hat die beiden Einsatzleiter der Canyoning-Unfall bei Interlaken vor zwei Jahren. Medicall organisierte damals die Rückführung der Leichen in die Herkunftsländer. «Das ging an die Substanz», erinnert sich Kaufmann. «Man kann ja nicht einfach mitheulen, wenn man einen Angehörigen am Telefon hat.» Es passiert ihm ab und zu, dass ihn eine Geschichte nach Feierabend weiter beschäftigt. «Die Menschen erzählen am Telefon erstaunlich viel, vermutlich wegen der Anonymität.»

3 Uhr 30: Zeit für einen weiteren Anruf in Costa Rica. Keine Chance: Der verunfallte Taucher ist nicht in seinem Zimmer. Um 21 Uhr habe die «Show» im Hotel begonnen, erklärt der Hotelportier. Sobald der Fax an die Ärzte mit allen Patientendaten bereit ist, naht schon das Ende der Schicht. Das Telefon bleibt relativ ruhig - die meisten Schweizerinnen und Schweizer sind unfallfrei und ohne Krankheit in die erste Ferienwoche gestartet. Draussen ist es hell geworden.

6 Uhr 30: Übergabe: Die Pendenzenliste ist aktualisiert und wieder etwa gleich lang wie am Abend zuvor. Dieter Kaufmann geht ausnahmsweise direkt ins Bett, weil er seit fast 24 Stunden nicht mehr geschlafen hat. Oft macht er zuerst noch einen Spaziergang im Wald und geniesst die Ruhe des Tagesanbruchs.

Irène Troxler

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Zürich und Region, 24.Juli 2001, Nr.169, Seite 39

Bereich: NachtarbeitSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin