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29.10.1998WeltwocheLisa StadlerSchlafmütze, Penner, Faultier, Morgenmuffel

Schlafmütze, Penner, Faultier, Morgenmuffel

Thomas war in einem Zustand des konstanten Jetlag. Wie wenn er jeden Tag nach Amerika geflogen wäre und wieder zurück.

Neun Uhr abends. Er habe noch nicht gefrühstückt, sagt Thomas. Keine Zeit. Immer diese Hetze nach dem Aufstehen: Die Ämter schliessen um fünf Uhr, die Post um sechs, die meisten Geschäfte um halb sieben. «Wenn ich etwas frühstücke, dann ein Sandwich, beim Anstehen in irgendeiner Schlange.» Als Nachtaktiver müsse er eben alles, wofür andere einen ganzen Tag Zeit hätten, in wenigen Stunden erledigen. Zu Hause geht es weiter: Staubsaugen, Musik hören, hämmern, Klavierspielen... Was andere am Feierabend machen, tut er vor Arbeitsbeginn. Genauer vor zweiundzwanzig Uhr. Dann ist für die Nachbarn Nachtruhe. Thomas zeigt mir die Meldung über einen neuen Bundesgerichtsentscheid, den er aus der Zeitung ausgeschnitten hat: «Staubsaugen nur bis 22 Uhr: Wer auf die Nachtruhe seines Nachbarn nicht genug Rücksicht nimmt, muss unter Umständen seine Wohnung räumen. Das Bundesgericht hat eine Kündigung wegen anhaltender Nachtruhestörung (Staubsaugen, mit Holzschuhen herumlaufen usw.) als rechtmässig abgesegnet.»

Erst ab zehn Uhr abends muss er nicht mehr herumhetzen. Dann kann Thomas, der sich kürzlich als Datenerfasser selbständig gemacht hat, endlich mit seiner Arbeit beginnen. Zwischendurch profitiert er von den diversen Vorteilen nachtaktiver Menschen: ohne endloses Warten zum Niedertarif durchs Netz surfen, nach Herzenslust lang und billig telefonieren (sofern sich ein Gesprächspartner findet) und sich dazwischen die Sterne angucken - ohne Angst vor UV-Strahlen oder erhöhten Ozonwerten. «Ich hatte noch nie einen Sonnenbrand», sagt Thomas. Seine Gesichtshaut ist für einen Mann Mitte Dreissig beneidenswert zart, wenn auch etwas bleich. Thomas lebt zeitversetzt. Gegen acht Uhr morgens, wenn andere langsam munter werden, legt er sich schlafen. Nach acht Stunden Schlaf nimmt er frisch gestärkt seinen «Tag» in Angriff. Das war nicht immer so. «Penner, Faultier, Schlafmütze, Morgenmuffel» hiess es früher, wenn er zu spät und todmüde in der Schule oder am Arbeitsplatz erschien. Nichts half: Das Klingeln der vier Wecker, die sich während einer Stunde gegenseitig ablösten, verhallte ungehört. Freinächte vor wichtigen Morgenterminen erwiesen sich als kontraproduktiv. Auch eine Schlaftherapie, für die er seine Ferien opferte, brachte keinen Erfolg: Zwar bemühte er sich redlich, jeden Tag drei Stunden später ins Bett zu gehen, und erreichte so auch dreiundzwanzig Uhr, seine gewünschte Einschlafzeit. Nur wurde er innert kürzester Zeit wieder rückfällig.

Erleuchtung im Wartezimmer

Schwierig, mit einem solchen Lebensrhythmus überhaupt Freundschaften zu knüpfen. Noch schwieriger, nicht ständig von Freundinnen verlassen zu werden. Denn nicht jede kam mit seinen nächtlichen Aktivitäten zurecht. «Schaatz! Kommst du endlich ins Beett», imitiert er die gereizte Stimme einer Verflossenen. Jetzt habe er wirklich Glück. Seiner Ehefrau mache es nichts aus, auch einmal länger aufzubleiben. Am Arbeitsplatz war es an ihm, sich zu arrangieren: Der gelernte kaufmännische Angestellte arbeitete entweder in der Nacht («gar nicht so einfach, finden Sie mal ein Büro, in dem nachts das Telefon klingelt»), oder seine Vorgesetzten akzeptierten sein ständiges Zuspätkommen - vorausgesetzt, die Leistung stimmte. Aber auch wenn er erst um elf Uhr zu arbeiten begann, befand sich Thomas in einem «Zustand des konstanten Jetlag. Wie wenn ich jeden Tag nach Amerika geflogen wäre und am andern Tag wieder zurück.» Nachdem er sich konsequent geweigert hatte, Schlafmittel einzunehmen, schien eine Psychoanalyse die letzte Rettung zu sein. Vielleicht war ja der Grund für sein ständiges Zuspätkommen in frühkindlichen Traumata zu orten. Nach mehreren Sitzungen, die nichts an seinem Lebensrhythmus zu ändern vermochten, kam die grosse Erleuchtung: nicht auf der Couch, sondern im Wartezimmer. Thomas blätterte im Heft «Sprechstunde», der Patientenzeitschrift der FMH-Ärzteschaft. Er stiess in einem Artikel über Schlafstörungen auf folgenden Abschnitt: «Der diskriminierte Nachtmensch. Es gibt tatsächlich denUnterschied zwischen Tag- und Nachtmenschen, also Personen, die entgegen dem Rhythmus unserer Gesellschaft nachtsquicklebendig, am Tag aber eher matt sind. Fachleute sind sich heute einig, dass es kaum von Gutem wäre, Menschen mitdiesen anlagebedingten Eigenschaften umzuerziehen.»Noch heute, drei Jahre nach diesem Ereignis, hat Thomas das Heft zur Hand. Es ist verfleckt, zerknautscht und zerlesen.Bevor er mir den Artikel zeigt, streicht er es glatt. «Ich bin also kein bösartiger Querulant, der als Säugling Eltern mit nächtlichem Schreien terrorisierte und später Lehrkräfte und Vorgesetzte zur Verzweiflung trieb. Ich bin einfach in bezug auf den Schlaf anders geschaltet.» «Morgenstund hat Gold im Mund», sagt das Sprichwort. Als löblich und tugendhaft gilt, wer früh aufsteht, um sein Tagwerk zu verrichten. Auch die Schlafforschung war lange dieser Ansicht. Der deutsche Lyzeumsdirektor Professor Theodor Stöckmann vertrat zu Beginn dieses Jahrhunderts die These des sogenannten Naturschlafs. Der Schlaf vor Mitternacht sei doppelt so erholsam wie derjenige danach, behauptete er. Er kam folgerichtig zum Schluss, dass man nur vier bis fünf Stunden zu schlafen brauche, wenn man bereits um sieben Uhr abends zu Bett gehe. Für den Stöckmann-Anhänger Georg Alfred Tienes war das Frühaufstehertum gar Quell eines wahren Jungbrunnens: «Der Morgen ist die schönste und schicklichste Zeit zur Arbeit, weil wir dann verjüngt, biegsamer, kräftiger, von grösster natürlicher Reizsamkeit sind, kurz, mehr jugendliche Wesensart aufweisen.» Erst allmählich kam die Forschung zum Schluss, dass der Schlaf ein «Thema mit Variationen» sei, wie es der Zürcher Schlafforscher Alexander Borbély ausdrückt. Ebenso individuell wie die Dauer des benötigten Schlafs sind auch die Einschlafzeiten. Die Fachliteratur unterscheidet zwischen Morgen- und Abendtypen, Populärwissenschaftler sprechen von Lerchen und Eulen. Jeder Mensch kann sich auf dem Kontinuum zwischen diesen beiden Extremen einordnen. Die ideale Einschlafzeit bleibt im Verlauf eines Lebens meist konstant. Die Gründe für diese Unterschiede sind, so Borbély, wahrscheinlich genetisch bedingt. Widerlegt ist auch die Mär vom gesunden, vormitternächtlichen Schlaf, denn unabhängig vom Zeitpunkt sind die ersten Stunden des Schlafes am wichtigsten für die Erholung. Ausgeprägte Morgentypen tun allerdings gut daran, vor Mitternacht ins Bett zu gehen. Die Schlafqualität eines jeden hängt vor allem davon ab, ob er zu «seiner Zeit» ins Bett kommt. «Auch extreme Varianten von Morgen- oder Abendtypen können noch im Rahmen des Normalen sein, wenn es ihnen gelingt, sich beruflich und privat entsprechende Nischen in der Gesellschaft zu sichern», schreibt der Münchner Psychiater Michael H. Wiegang. Das zeitversetzte Leben mache erst dann krank, wenn eine entsprechende Anpassung nicht mehr möglich sei. Dann könne es zu «erheblichem Leidensdruck» mit «Folgeerscheinungen wie Medikamentenmissbrauch und depressiven Verstimmungen» kommen.

Dem Morgen das Grauen nehmen

Im Internet stösst man auf zahlreiche menschliche Dramen dieser Art: «Meine Freundin wurde depressiv und hat mich rausgeschmissen», schreibt Alex aus England. «Wenn ihr jemand helfen könnte, wäre ich sehr dankbar.» Su-Laine Yeo aus Kanada, an dem kein Nachtaktiver vorbeisurfen kann, hat für solche Fälle eine Ratgeber-Seite eingerichtet. «Ich freue mich über eure Post», schreibt er abschliessend «doch werde ich kaum zurückschreiben. Ich bin es leid, über Nachtaktivität zu diskutieren.» Der deutsche Designer und bekennende Nachtaktive Günter Woog hat einen Verein «zur Förderung zeitversetzt und langschlafender Menschen» gegründet. Vor elf Uhr morgens ist er nicht erreichbar. Damit ist er im Vergleich zu den meisten seiner Vereinsmitglieder ein Frühaufsteher - bis sechzehn Uhr liegen viele noch im Bett. «Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, sind wir, wo es schöner ist», heisst die Vereinsparole. Ziel des Vereins ist es, dem Morgen das Grauen zu nehmen, und zwar in verschiedener Hinsicht: So sollen Schulklassen für zeitversetzte Schülerinnen und Schüler eingerichtet werden, und die Ämter sind aufgerufen, auch Sprechstunden am späten Nachmittag anzubieten. Thomas hat die Einsicht, «nicht mich selber, sondern meine Lebensumstände zu ändern», zu neuem Selbstbewusstsein verholfen. Im Januar machte er sich selbständig, im Mai gründete er mit anderen Zeitversetzten den Verein «Nachtaktiv», der bis jetzt erst wenige Mitglieder hat. Seine Forderungen gehen noch weiter als die seiner deutschen Nachtgefährten: Er wünscht sich die totale Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Ladenöffnungszeiten rund um die Uhr sowie öffentliche Verkehrsmittel, die vierundzwanzig Stunden zirkulieren. Schade nur, sagt Thomas, dass er die Linke kaum für diese Ideen gewinnen könne. Schliesslich setze sie sich sonst doch auch für diskriminierte Minderheiten ein. Kürzlich lag ein Brief der Stadtpolizei in Thomas' Briefkasten: «Durch das Amt für Zivilschutz der Stadt Zürich ist bei der Stadtpolizei Anzeige erstattet worden. Der Anzeige ist zu entnehmen, dass Sie dem Aufgebot für Zivilschutzdienst am Montag, 23. Februar 1998, 8.00 Uhr, ohne Dispens/Entschuldigung ferngeblieben sind.» Für allfällige Rechtfertigungsgründe habe er fünf Tage Zeit. «Telefonisch erreichen Sie mich von Montag bis Freitag von 10.00 bis 11.00 Uhr. Wachtmeister Bucher.» Thomas rechtfertigte sich - allerdings nicht auf dem vorgeschriebenen Weg: «Der Zeitpunkt, währenddessen ich die Sache klären könnte, fällt in meine Schlafenszeit. Deshalb habe ich dieses Schreiben verfasst und verzichte auf einen Anruf.»

Lisa Stadler ist Journalistin und lebt in Zürich

Bereich: AlltagSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin