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11.04.2001Neue Zürcher Zeitungcrz.Tagwerk zu nachtschlafender Zeit

Tagwerk zu nachtschlafender Zeit

Vom Leben und Arbeiten in der Nacht

Nachtarbeit ist mehr als die Verrichtung der beruflichen Pflichten zu einer Zeit, da «man» normalerweise schlafen sollte. Nachtarbeit ist ein Lebensstil. Damit auch die (zumeist tagsüber arbeitenden) Personalchefs an dieser Sinneserfahrung teilhaben können, hat in Zürich die wohl erste «Nachtung» vorab für Personalfachleute stattgefunden, eine Tagung in der Nacht - zum Thema Nachtarbeit.

crz. Begonnen wird mit einem Sashimi vom Thunfisch. Gebettet ist die kalte Köstlichkeit auf einem äusserst deliziösen Salätchen von Papaya mit Tamari. Ein Hauch von Fernost weht durch den Saal des «Kaufleuten», wo zu später Stunde das Dîner nocturne serviert wird. Kaum ist der Thunfisch unter Lobpreisungen für die Künste des Kochs den Gaumen heruntergerutscht, folgt sogleich der zweite Gang - ein leichtes, thailändisch orientiertes Currysüppchen mit Kokosnuss, Berner Räuchertofu und Pilzen, gekrönt von einem Blättchen frischem Koriander. Der dritte Gang führt die Gäste kulinarisch westwärts, in den nordafrikanischen Raum genauer gesagt. Das zarte Zanderfilet ruht anmutig auf einem Bett von pürierten Auberginen, die mit einem seltenen Pflanzenöl aus Marokko, dem Arganöl, zum Mousse geschlagen wurden. - Die Freuden des Mahles gehen weiter mit dem Wädenswiler Freilandhuhn, das glücklich gelebt hat bis zum letzten Tag, das zerlegt und nach allen Regeln der Kunst wieder zusammengesetzt wurde, um dann längere Zeit im eigenen Saft zu garen. Angerichtet auf einer Unterlage von grünem Spargel, schmeichelt dieser vierte Gang wie alle seine Vorgänger nicht nur dem Gaumen, sondern auch dem Auge. Abgeschlossen wird das von Freddy Christandl kreierte Dîner nocturne mit dem Süssen und Luftigen von der Kaffeebohne, sozusagen ein Mousse au café ohne viel Kalorien.

Spaghetti machen müde

Dieses Festmenu, das anlässlich einer nächtlichen Tagung zum Thema Nachtarbeit rund 100 vorab im Personalbereich tätigen Berufsleuten serviert wurde, unterscheidet sich von anderen Kreationen der Spitzengastronomie nur in einem Punkt: Es ist speziell für Leute konzipiert, die in der Nacht arbeiten. So fehlen etwa die Kohlehydrate wie Brot, Reis oder Pasta. Denn Kohlehydrate machen müde, indem sie die Produktion bestimmter Stoffe im Körper anregen, welche ihrerseits den Schlaf fördern. Vor einer Nachtschicht eine riesige Portion Spaghetti zu verschlingen, wäre daher unklug. Eiweiss dagegen, wie es im Fisch, im Tofu oder im Huhn zu finden ist, bewirkt das Gegenteil, es macht munter. Fettes Essen, das schwer im Magen liegt, ist Nachtarbeitenden ebenfalls nicht zu empfehlen, das Huhn bereitete der Koch daher ohne die fetthaltige Haut. Freilich ist Nachtarbeitern auch von Alkoholkonsum abzuraten, weshalb bei diesem Dîner auf einen guten Tropfen für einmal verzichtet wurde.

Die Christandl'sche Speisefolge zeigt, dass regelmässige Nachtarbeit nicht nur die Arbeit an sich, sondern das ganze Leben und damit auch die Ernährungs- und Schlafgewohnheiten sowie das Sozial- und Familienleben prägt. Nachtarbeit ist ein Lebensstil. Mit der wohl ersten Tagung zu nachtschlafender Zeit sollte den Personalfachleuten nicht nur theoretisches Wissen, sondern ein lebendiger Eindruck dieser Lebensweise vermittelt werden. Diese Lebensweise mit den biologischen Gesetzmässigkeiten des menschlichen Organismus - mit der inneren Uhr - zu vereinbaren, ist eine Herausforderung für Mitarbeiter und Betrieb, wie die Chronobiologin Prof. Anna Wirz-Justice von der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel an der vom Kaufmännischen Verband Zürich, von der Gruppe Corso und der (von Nachtarbeit betroffenen) Neuen Zürcher Zeitung organisierten «Nachtung» ausführte.

Die Chronobiologie ist die Wissenschaft von biologischen Rhythmen, von denen die innere Uhr einer ist. Diese Uhr läuft unabhängig davon, wie lange man wacht und wie lange man schläft, und ein Tag dauert gemäss der inneren Uhr nicht 24, sondern rund 25 Stunden, wie Wirz-Justice anhand einer Studie erklärte. Probanden gingen im Rahmen einer Untersuchung grundsätzlich immer später ins Bett und standen entsprechend später auf, und zwar einem praktisch linearen Verlauf folgend. Dienstpläne, sagte Wirz-Justice, sollten daher idealerweise diesem Muster folgen, das heisst, spätere Schichten sollten auf frühere folgen und nicht umgekehrt. Wie die Arbeitseinteilung hingegen nicht zu machen sei, führte die Chronobiologin anhand des Dienstplans eines Lokomotivführers vor, der jeweils immer früher zur Arbeit antreten musste, ein Rhythmus, welcher der inneren Uhr entgegengesetzt ist.

Unter anderem hängt die innere Uhr mit der Körpertemperatur zusammen, die in der zweiten Nachthälfte auf einen Tiefpunkt absinkt. Hier ist denn auch Vorsicht geboten, was die Arbeitssicherheit angeht. Wirz-Justice hält es für keinen Zufall, dass sich die Reaktor-Unfälle sowohl in Tschernobyl als auch in Three Mile Island genau um diese Zeit ereigneten. Um den Effekt dieses körperlich bedingten Leistungstiefs zu mindern, verweist die Wissenschafterin auf die Wirkung des Lichts. Mit dem richtigen Licht zur richtigen Zeit kann das Wachsein gefördert werden. Es gebe keine einfache Lösung für die Regelung von Nachtarbeit, sagte die Wissenschafterin vor den rund 100 Teilnehmern der Nachtung, zu suchen - und zu finden - seien aber betriebliche Optimierungen.

Gipfeli und Zeitung

Soll man Nachtarbeit als Sinneserfahrung erleben - und diesen Anspruch hatte die «Nachtung» schliesslich -, reicht eine «akademische» Veranstaltung freilich nicht aus, Praxis ist angesagt. Und so sollten die Teilnehmer hautnah erleben, wie des Nachts das entsteht, was ein (schweizerisches) Frühstück ausmacht: namentlich Gipfeli und die Zeitung. Morgens um drei Uhr laufen die Maschinen in der Druckerei der Neuen Zürcher Zeitung in Schlieren auf Hochdruck. Taghell ist es in der Produktionshalle, im Eiltempo jagen die Papierbahnen durch die Druckmaschine. In der Luft liegt ein Geruch von Druckfarbe. Unter den wachsamen Augen des Personals entsteht die neuste Ausgabe der NZZ, die in den nächsten Stunden auf den Weg zu ihren Adressaten geschickt wird. Paul Baldauf, der Leiter der NZZ-Spedition, arbeitet hier in Dauernachtarbeit. In seinem Team sind 37 Personen beschäftigt, die ebenfalls nur nachts ans «Tagwerk» gehen. Das gute Arbeitsklima und nicht zuletzt die guten Arbeitsbedingungen, welche unter anderem einen Nachtzuschlag von 100 Prozent vorsehen, schlagen sich auf die Arbeitszufriedenheit nieder: Von den vollzeitlich Angestellten gibt es nach den Worten von Baldauf praktisch keine Abgänge, einige Mitglieder seines Teams arbeiten denn auch schon seit weit mehr als 20 Jahren hier.

Eine Schlieremer Nachbarin der NZZ ist die Grossbäckerei Fredy Hiestand. Hier entstehen nebst anderen Produkten die Gipfeli, die man sich hierzulande so gerne zum Frühstück genehmigt. Und damit die Gipfeli nicht nur frisch, sondern auch rechtzeitig parat sind, wird nachts geknetet, geformt und gebacken. Nicht nach Druckfarbe, sondern nach süssem Teig riecht es hier, und den mittlerweile doch etwas übernächtigten «Nachtungs»-Teilnehmern kommen die ofenfrischen Gipfeli und der frisch gebraute Kaffee nicht ungelegen.

Lange und kurze Rotationen

In der Schweiz arbeiten gemäss der letzten Befragung im Rahmen der Arbeitskräfteerhebung (Sake) vom Jahr 2000 gut 13 Prozent der Beschäftigten regelmässig nachts, wie Toni Holenweger von der Gruppe Corso, einem Netzwerk, das sich mit Arbeitszeitmodellen beschäftigt, an der Nachtung ausführte. Weit verbreitet sind in der Schweiz dabei die sogenannten langen Rotationen. Die Mitarbeiter arbeiten jeweils sieben Früh-, sieben Spät- und sieben Nachtschichten. Laut Holenweger ist dieses Schichtsystem in chronobiologischer Hinsicht ungünstig, weil sich der Körper dabei ständig in einem Anpassungsprozess befindet oder - wie es Wirz-Justice formulierte - einem ständigen Jetlag ausgesetzt ist, ohne je anzukommen. Mit der Dauernachtarbeit hingegen hat man laut Holenweger gute Erfahrungen gemacht. Hier können gezielt Mitarbeiter rekrutiert werden, die auf Grund ihrer physischen und sozialen Voraussetzungen besser für diese Arbeitszeitform geeignet sind als andere. In den USA ist die Dauernachtarbeit bereits für die Mehrheit der Nachtarbeitenden Realität. Schliesslich bietet sich auch noch die kurze Rotation mit rasch aufeinander folgenden Schichten an. Sie trafen im Rahmen eines Pilotprojekts in einem chemischen Unternehmen anfangs zwar auf Skepsis, am Ende des Versuchs beurteilte die Mehrheit der Betroffenen die kurz rotierende Variante aber besser als die lang rotierende.

Mit ihren Speisen, Referaten und Firmenbesuchen machte die «Nachtung» auf anschauliche Weise schliesslich das klar, was der griechische Philosoph Demokrit schon vor knapp 2500 Jahren erkannt hatte: «Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages».

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Mensch und Arbeit, 11.April 2001, Nr.85, Seite 87

Bereich: NachtarbeitSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin