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21.08.2001Neue Zürcher Zeitungmbm.«Wirbelwind» zwischen Gästen und Getränken

«Wirbelwind» zwischen Gästen und Getränken

Eine Nacht lang an der Theke von Barmaid Erika Mariom de Souza

Erika Mariom de Souza kümmert sich in einer Bar im Kreis 4 um Leute, die ihr Tagwerk erledigt haben und den Feierabend geniessen. Die 24-jährige Bardame schätzt an ihrer Arbeit den Kontakt mit den mannigfaltigsten Gästen, von denen es nachts an der Langstrasse zuhauf gibt.

mbm. Wenn Erika Mariom de Souza kurz vor 5 Uhr morgens nach Hause kommt und wenig später todmüde ins Bett fällt, hat sie zuvor in der Nacht unzählige Drinks zubereitet und ihren Gästen serviert. Erika arbeitet nächtens von 19 bis 4 Uhr in der Piranha-Bar an der Langstrasse. Obwohl ihr die Arbeit sehr gut gefällt, wäre sie eigentlich lieber in ihrer Heimat, in Brasilien. Auch jetzt, selbst an den schönsten Zürcher Sommertagen, vermisst sie ihr Land. Der Liebe wegen ist die 24-Jährige aus Anapolis im Staat Goias vor vier Jahren in die Schweiz gekommen, wo sie seit zwei Jahren als Bardame Tag für Tag die Nacht zum Tag macht. Wegen der Zeitverschiebung hat sie mehr oder weniger den gleichen Biorhythmus wie in ihrem Heimatland. Begonnen hat sie mit der Servicetätigkeit an Festen, später liess sie sich fest anstellen, seit vergangenem Dezember arbeitet sie in der Piranha-Bar.

Arbeitsbeginn um 18 Uhr 40

Arbeitsbeginn ist für Erika jeweils ungefähr um 18 Uhr 40, eine Zeit, zu der die meisten ihr Tagwerk schon beendet haben. Genau solche Leute frequentieren um diese Zeit die Bar, in der man an warmen und schönen Tagen draussen sitzen kann. Erika und ihre zwei Kolleginnen übernehmen die Schicht von denjenigen Angestellten, die von 10 bis 19 Uhr arbeiten. Dabei muss genau abgerechnet werden, wird doch jede einzelne Bestellung einer Bardame zugerechnet, für die diese auch beim Einkassieren verantwortlich ist. Stimmt am Schluss das Geld in der Kasse nicht mit dem Sollbetrag überein, geht die Differenz zulasten oder - was selten vorkommt - zugunsten der verantwortlichen Angestellten. Erika arbeitet in der Regel während der Nachtschicht, an acht Tagen beziehungsweise Nächten im Monat hat sie frei.

Ruhepausen kennt Erika während der Arbeit kaum, an einer Bar gibt es immer etwas zu tun. Wie ein «Wirbelwind» trippelt sie in ihren hohen Plateausandalen und mit dem Serviceportemonnaie, das sie - wie ein Cowboy den Revolver - um die Hüfte gehängt hat, ständig um Gäste und Stehtische sowie von der Zapfsäule zum Kühlschrank. Unter den Drinks steht der Caipirinha bei der bunten Gästeschar mit Abstand am höchsten im Kurs. Für die Zubereitung ist auch etwas Muskelkraft nötig, muss sie doch im Glas zuerst klein geschnittene Limetten und Rohrzucker mit dem Mörser zerstampfen, ehe Eis und Zuckerrohrschnaps, Cachaca, dazukommen. Gefragt sind auch die Varianten Caipiroska mit klarem Wodka und Caipiranha mit rotem Wodka. Erika sagt, allein sie bereite in guten Nächten insgesamt mehr als 50 Stück dieser drei Getränke zu. Ebenfalls im Angebot sind Drinks mit so interessanten Namen wie Seitensprung und El Diablo. An Bieren hat Erika an erster Stelle Brahma aus Brasilien auszuschenken.

Die Erfahrung der Verkehrsbeamtin

Vor Mitternacht gibt es vor allem unter der Woche schon einmal Gelegenheit, mit einem Stammkunden oder einer Arbeitskollegin ein paar Worte zu wechseln, wobei Erika nie das Geschehen im Lokal aus dem Auge verliert. Den Blick für den «Verkehr» hat Erika von ihrem Beruf in Brasilien her. Dort hat sie als «guarda de transito», als eine Art Verkehrsbeamtin, gearbeitet und unter anderem Bussen verteilt. «Ich muss immer aufmerksam sein und merken, wenn jemand bestellen oder bezahlen will», sagt sie. Dann gilt es auch, abzuräumen, die Theke und die Tische abzuwischen, Aschenbecher zu leeren, die Abwaschmaschine ein- und auszuräumen und immer jede Bestellung in die Kasse einzutippen.

Beim Eindunkeln zündet Erika die Kerzen im Lokal an, und wenn ein Gast Geld wechseln oder Zigaretten kaufen will, ist sie zur Stelle. Auch für Sonderwünsche findet sie Zeit, zum Beispiel, wenn ein Mann sie bittet, eine leere Zigarettenschachtel so aufzuschneiden, dass er darauf für eine eben erst kennen gelernte Schöne seine Telefonnummer schreiben kann. Oder wenn ein Rosenverkäufer fragt, ob sie die Stiele neu anschneiden könne, damit die Blumen frisch bleiben. Dann rückt sie schon wieder Stühle zurecht und holt frisches Eis für die Drinks.

Erika liebt ihre Arbeit, die manchmal etwas stressig sei. «Doch wo ist dies anders?», fragt sie, während sie dem DJ ein Bier reicht und sich die Haare aus dem Gesicht streicht. Sie spricht gern mit den Leuten, die von ihren Problemen oder Freuden erzählen, weinen oder lachen. Sie schätzt es auch, zu arbeiten, wenn vorwiegend brasilianische Musik gespielt wird. Als laut grölend eine Polterabendgruppe das Lokal betritt, wird Erika in irgendein lustiges Spiel mit einbezogen, bevor für jeden ein Bier bestellt wird. Angesprochen auf die Schattenseiten der Nachtarbeit, wird sie plötzlich ernst: Ihre beiden Kinder im Alter von 4 und 7 Jahren leben nicht in der Schweiz, sondern bei ihren Eltern in Brasilien. Mühe hat sie mit arroganten Gästen, Zechprellern und aggressiven Betrunkenen. Die Polizei muss allerdings selten gerufen werden. Polizisten werfen aber von sich aus hin und wieder einen Blick ins Lokal - die Probleme der Langstrasse sind nicht weit. Abgrenzen muss sich Erika gegen männliche Gäste, die glauben, sie könnten sie betatschen. Höflich, aber bestimmt weist sie Zudringliche verbal in die Schranken, und wenn dies nichts nützt, kann sie auch handgreiflich werden.

Schlafen bis 15 Uhr

Nach Arbeitsschluss um 4 Uhr räumt sie noch eine halbe Stunde auf und ordnet Gläser für die Frühschicht. Dann fährt sie mit dem Taxi nach Hause. Sie macht viel Trinkgeld und ist am Umsatz beteiligt, weshalb sie sich das Taxi immer leistet. Am Tag schläft sie bis 14 oder 15 Uhr. Dann erledigt sie ein paar Dinge, hört Musik oder geht mit Kolleginnen essen oder einkaufen. Im Sommer geniesst sie regelmässig ein paar Stunden am See - bis die Sonne untergeht und für sie die Nacht wieder zum Tag wird.

Bereich: NachtarbeitSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin