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12.12.2001Neue Zürcher ZeitungAlbert ZeyerVon Nachtschwärmern und Siebenschläfern

Von Nachtschwärmern und Siebenschläfern

Schlaf und Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Schlaf ist ein geregelter, aktiver Prozess, der in jedem Entwicklungsalter charakteristische Merkmale aufweist. Schlaf spielt eine wichtige Rolle für das Gedächtnis und das Lernen und fördert die Entwicklung und Reifung des Gehirns. Diagnose und Behandlung von Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen sind daher von grosser Bedeutung. Die Schlafmedizin verzeichnet auf diesem Gebiet grosse Fortschritte.

«Wenn wir schlafen, gehen im Gehirn die Lichter aus», meinte noch vor rund hundert Jahren der Nobelpreisträger Sir Charles Scott Sherrington. Moderne Schlafforscher sehen dies etwas anders. Zwar ist der eigentliche Zweck des Schlafes noch immer rätselhaft. Aber das Gehirn bleibt in der Tat hellwach, wenn wir abends die Lichter löschen. Es gibt sogar viele Hinweise, dass der Schlaf eine eminent wichtige Rolle spielt für das Lernen und das Gedächtnis. Erfahrungen aus dem Wachzustand werden nachts «nacherinnert», prozessiert und verfestigt. Neuronale Zellverbände, die tagsüber aktiviert wurden, feuern im Schlaf erneut intensiv und bahnen frische Synapsen. Das Gedächtnis integriert neue Informationen und vernetzt sie mit bestehendem Wissen. Früher erworbene Fähigkeiten werden aktualisiert und neue Prozeduren geübt. Schlaf verbessert das Lernen komplexer Spiele und den Erwerb von Fremdsprachen.

Erinnerungen scheinen so lange in einem fragilen Zustand zu verharren, bis sie durch den ersten Schlaf «nachgehärtet» werden. Wer nachts nicht schläft oder am Schlafen gehindert wird, zieht weniger Nutzen aus tagsüber Gelerntem. Schlaf scheint auch für die Entwicklung und Reifung des Gehirns von zentraler Bedeutung zu sein. Versuche mit der Sehfähigkeit junger Katzen und mit dem Tastsinn der Schnauzhaare junger Ratten zeigen, dass der Schlaf genauso wichtig ist für eine normale Entwicklung dieser Sinne wie ihr ständiger Gebrauch.

Gesunder Schlaf ist daher für Wachstum und Entwicklung von grosser Bedeutung. Doch auch bei Kindern und Jugendlichen sind Schlafstörungen keine Seltenheit, weshalb die Klinik für Schlafmedizin in Zurzach kürzlich ein Symposium über Schlaf und Schlafstörungen in dieser Altersgruppe veranstaltete.

Dem Schlaf auf der Spur

Schlaf ist von faszinierenden chronobiologischen Rhythmen geprägt. Sie sind allerdings bei der Geburt noch keineswegs eingespielt, sondern reifen im Laufe der kindlichen Entwicklung. Der Schlaf des Neugeborenen ist in den ersten Wochen irregulär, geprägt von der Überlagerung 40- bis 60-minütiger Aktivitätszyklen mit 3- bis 4-stündigen Schlafphasen, die sich bereits im Mutterleib nach der 30. Schwangerschaftswoche nachweisen lassen. Während des ersten Lebensjahres verdichtet sich dieses chaotische Muster zu einem regulären Biorhythmus, der dann im Lauf der Jahre zu jenem des erwachsenen Menschen heranreift. Im Kleinkindesalter sind mehrere Schlafphasen die Regel. Bis zum Alter von etwa 10 Jahren verliert sich das Bedürfnis nach einem nachmittäglichen Nickerchen zunehmend. Jugendliche haben bereits ein erwachsenes Schlaf-Wach-Muster mit einer einzelnen, gewöhnlich etwa 8-stündigen Schlafphase. Erst der alte Mensch kehrt schliesslich wieder zu einem polyphasischen Schlafmuster mit nachmittäglichem Schläfchen zurück.

Die Schlafforscher bedienen sich bei ihren Untersuchungen vor allem der sogenannten Polysomnographie. Der Schläfer wird dabei nach allen Regeln der diagnostischen Kunst vermessen. Hirn- und Herzstromkurven werden abgeleitet, die Augenbewegungen festgehalten und die Atmung registriert. Ausserdem werden die Aktivität der Atemmuskulatur, die Sauerstoffsättigung und der Kohlendioxidgehalt des Blutes, die Körperlage und die Beinbewegungen aufgezeichnet. Schliesslich horcht ein Schnarchmikrophon auf verräterische Schlafgeräusche, und eine Videokamera zeichnet kontinuierlich das Bild des Schläfers auf.

Mit Hilfe dieser Untersuchungen, die schon bei Säuglingen möglich sind, wird die sogenannte Schlafarchitektur erforscht. Dabei geht es nicht nur um den Schlaf-Wach-Rhythmus, sondern auch um die Abfolge der sogenannten Schlafstadien (die Einteilung erfolgt nach Kriterien der Hirnstromkurven) oder die Kontinuität des Schlafes. Auch die Schlafarchitektur zeigt in jedem Lebensalter charakteristische Merkmale. So sind der Anteil des REM-Schlafes (Rapid-Eye-Movement-Schlaf, entspricht im Wesentlichen dem Traumschlaf) und der des Non-REM-Schlafes beim Neugeborenen ungefähr gleich. Im Laufe der Entwicklung verschiebt sich dieses Verhältnis zugunsten des Non-REM-Schlafes, der beim Erwachsenen etwa 80 Prozent ausmacht.

Schlaflose Kinder und ratlose Eltern

Die Schlafforschung erschöpft sich aber nicht in der Analyse von Polysomnogrammen. Gerade die Beurteilung von kindlichen Schlafstörungen bedarf auch eines umfassenden psychosozialen Wissens, denn diese Störungen wirken sich auf die gesamte Familienstruktur aus. Es wird angenommen, dass in der Schweiz jedes zweite bis vierte Kind unter Schlafstörungen leidet. Oft werden dabei die ratlosen und erschöpften Eltern selber zu Patienten. So zeigen zwei grosse Studien Mitte der neunziger Jahre in Deutschland, dass sich das Risiko, an einer Depression zu erkranken, bei Müttern mit schlafgestörten Kindern nach sechs Monaten verdoppelt. Dabei handelt es sich oft um eine «agitierte» Form der Depression, die schwer erkennbar ist, aber nicht selten in einen Teufelskreis zwischen depressiver Mutter und schlaflosem Kind mündet. Überflüssig zu sagen, dass eine solche Konstellation auch ein Risiko für Kindsmisshandlungen darstellt.

Ohnehin haben Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen, wie Richard Ferber vom Children's Hospital in Boston, einer der führenden Erforscher des Kinderschlafes, in seinem Referat betonte, sehr oft keine körperlichen Ursachen, sondern sind Symptom von gestörten Familieninteraktionen. Vor allem das Einschlafen spielt sich in einem subtilen Spannungsfeld von Geborgenheit und Grenzen, von Schutzbedürfnis und Machtspielen zwischen Eltern und Kind ab.

Die Therapie solcher Systemstörungen umfasst die genaue Analyse der Situation, die Aufklärung der beteiligten Mechanismen und die Instruktion der Eltern. Diese müssen zu Experten ihres häuslichen Schlafsystems werden. Sie lernen, vernünftige Grenzen zu setzen, mit ihren Kindern zusammen realistische und durchführbare Schlafrituale zu entwickeln und die Botschaft von Schlafängsten im Kontext der kindlichen Lebenswelt zu verstehen. Fachpersonen können ihnen dabei nicht nur mit psychologischem Wissen, sondern auch mit der Kenntnis der altersabhängigen kindlichen Schlafarchitektur helfen.

Es ist allerdings gefährlich, jede kindliche Schlafstörung unbesehen psychischen Störpotenzialen anzulasten. Es können nämlich sehr wohl auch somatische Ursachen im Spiel sein. Fast jedes Organsystem kann den gesunden Schlaf beeinträchtigen. Viele Erkrankungen des Atemsystems stören den Schlaf, aber auch Krankheiten des Nervensystems, der Muskulatur, des Magen-Darm-Traktes oder genetische Leiden. Vom harmlosen Aufstossen des Kleinkindes, bei dem der Schoppen in die Speiseröhre zurückläuft (Reflux), bis zum albtraumhaften Undine-Syndrom (Congenital Central Hypoventilation Syndrome), bei dem die zentrale Atemregulation gestört ist, findet man zahllose Krankheitsbilder in der Diagnoseliste des Schlafspezialisten. Entsprechend vielfältig und interdisziplinär sind die Therapieansätze. Während es etwa beim Reflux oft reicht, den Schoppen einzudicken, kann beim Undine-Syndrom eine maschinelle Heimbeatmung des Kindes notwendig werden, um ein allmähliches Ersticken während des Schlafs zu verhindern.

Schlafwandeln und Albträume

Alltägliche, aber die Phantasie der Menschen seit Jahrhunderten beflügelnde Schlafstörungen sind die sogenannten Parasomnien wie Schlafwandeln, Albträume oder Bettnässen. Erst seit der Einführung der Polysomnographie ist es der Schlafforschung gelungen, den Schleier des Unerklärlichen, der über diesen Phänomenen liegt, zu lüften. Es zeigt sich, dass Parasomnien keine echten Beeinträchtigungen der Schlaf-Wach-Regulation sind, sondern merkwürdige Unterbrechungen des normalen Schlafprozesses jeweils beim Wechsel des Schlafstadiums. Sie treten in jedem Lebensalter auf, sind aber bei Kindern besonders häufig.

Die Ursachen von Parasomnien sind unklar. Es werden genetische Dispositionen, die Verzögerung neuronaler Reifung, emotionale und sensorische Irritationen sowie Hirnfunktionsstörungen diskutiert. Interessant ist auch die Frage nach der Bedeutung der Parasomnien. Gewöhnlich werden sie als flüchtige, klinisch bedeutungslose Entwicklungsphänomene betrachtet. Gemäss Ulrich Rabenschlag, dem Begründer der ersten Kinderschlaf-Ambulanz in Deutschland (Universitätsklinik Freiburg), ist diese Ansicht jedoch zumindest im Pubertätsalter nicht mehr haltbar. Wenn Parasomnien lange andauern, mehrfach oder zusammen mit Ein- oder Durchschlafstörungen auftreten, können sie laut Rabenschlag die ersten Vorboten einer ernsthafteren psychischen Störung sein.

Jugendliche ohne Schlafprobleme?

Am erwähnten Symposium wurde viel über Neugeborene und Kinder, vergleichsweise wenig aber über das Schlafverhalten von Jugendlichen und Adoleszenten berichtet. Aus einzelnen Referaten wurde indes ersichtlich, dass Schlafstörungen auch bei dieser Altersgruppe durchaus ein Thema sind. So nehmen Einschlafstörungen bis in die Adoleszenz kontinuierlich zu, und auch Parasomnien sind keineswegs auf die Kinderzeit beschränkt. Immer wichtiger werden in dieser Entwicklungsphase aber auch Fragen des Lebensstils. Obwohl das Schlafbedürfnis in der Pubertät gross ist, wird es aus verschiedenen Gründen oft ignoriert. «Nachschlafen» übers Wochenende wiederum kann zu Störungen des Schlafrhythmus führen. Wie neuere Untersuchungen zeigen, sind 13-jährige Schweizer Jugendliche während eines Viertels ihrer Anwesenheit in der Schule schläfrig. Dies ist einerseits aus lern- und entwicklungspsychologischer Sicht bedenklich. Andererseits werden so vermutlich auch ungünstige schlafhygienische Weichen gestellt, die zu Schlafproblemen im Erwachsenenalter führen können. «Gebt den Leuten mehr Schlaf», sagte Tucholsky, «und sie werden wacher sein, wenn sie wach sind.»

Albert Zeyer

Quellen: Science 294, 11-16 (2001), Pediatrics in review 22, 327-342 (2001).

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Forschung und Technik, 12. Dezember 2001, Nr.289, Seite 69

Abklärung kindlicher Schlafstörungen

A. Z. Für Schlafprobleme bei Kindern ist nach Sepp Holtz, Entwicklungspädiater in Zürich, der Kinderarzt die erste Ansprechperson. Da der Arzt das Kind und meist auch die Familie kennt und auf Grund seiner Ausbildung mit der Thematik vertraut ist, kann er oft bereits entscheidend helfen. Falls nötig, arbeiten Pädiater auch mit der lokalen Mütterberatung zusammen oder veranlassen eine Überweisung an eine spezielle Schlafsprechstunde für Kinder oder, in seltenen Fällen, an einen Spezialarzt einer anderen medizinischen Disziplin.

In der Schweiz gibt es eine ganze Reihe von Zentren für Schlafmedizin. Für Kinder und Jugendliche in der Deutschschweiz sind jedoch die Schlafsprechstunden der Universitätskinderklinik Zürich (Abteilung Wachstum und Entwicklung) und die Klinik für Schlafmedizin in Zurzach führend. In einer Kinderschlafsprechstunde werden neben dem Gespräch mit den Eltern und dem Kind Fragebogen und Schlaftagebuch benutzt, um Schlafprobleme zu diagnostizieren und gemeinsam einen Behandlungsplan auszuarbeiten. Manchmal ist auch für Kinder eine Nacht im Schlaflabor nötig. Sie können dabei in der Regel von ihren Eltern begleitet werden.

Das von der Klinik für Schlafmedizin in Zurzach organisierte Symposium im November dieses Jahres setzte sich zum Ziel, die zahlreichen Berufsgattungen, die mit dieser Thematik beschäftigt sind, zusammenzuführen. Die Zurzacher Schlafklinik wird auf privater Basis geführt und nimmt sich Patienten an, die an Schlafstörungen oder extremer Tagesschläfrigkeit leiden. Sie besteht aus einem Ambulatorium und einer kleinen, stationären Abteilung, in der Patienten mit schweren, lang andauernden Schlafstörungen behandelt werden.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Forschung und Technik, 12. Dezember 2001, Nr.289, Seite 69

Bereich: Forschung SchlafSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin