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31.03.2002Neue Zürcher ZeitungAlex BänningerSchlafes Bruder: Leo Sternbach und seine Erfindung

Schlafes Bruder: Leo Sternbach und seine Erfindung

Der geniale Chemiker entdeckte die Wirkstoffe für das Schlafmittel Valium. Ein Porträt von Alex Bänninger.

Jeden Werktag fährt die 79-jährige Herta Sternbach ihren 94-jährigen Mann Leo Sternbach mit dem Auto ins Büro: jeden Werktag seit 61 Jahren, vom Einfamilienhaus in Upper Montclair zum amerikanischen Sitz der Roche in Nutley und wieder zurück. Die kurze Reise in New Jersey, zwölf Meilen westlich New Yorks und immer wieder mit der Skyline Manhattans im Blick, verläuft rassig. An den Kreuzungen beansprucht der weisse Chevrolet den Vortritt. Für die Sicherheitskontrolle durch den uniformierten Wachtposten genügt ein lässiger Rollstopp. Im Halteverbot entsteigt Leo Sternbach, den Stock voraus, dem Wagen. Vorbeigehende grüssen herzlich. - Das Ritual erzählt in knapper Zusammenfassung eine Liebes-, Erfolgs- und Glücksgeschichte.

Mit Liebe und Glück

Sie ist mit eigener intellektueller Kraft und philosophischer Heiterkeit gestaltet worden. Zum Beispiel und besonders dramatisch Ende der fünfziger Jahre, als sich Leo Sternbach im Tranquilizer-Projekt der amerikanischen Roche verirrte, seinen Platz in der offiziellen Forschungsgruppe verlor, verbissen im Schutze einer belächelten Narrenfreiheit auf dem Holzweg verharrte, sich in frühere Erkenntnisse seiner Dissertation vertiefte, in den letzten Augenblicken der zunehmend strapazierten Duldung das 1960 auf den Markt gebrachte Librium als ersten «Minor Tranquilizer» entdeckte, dann das 1963 folgende Valium, damit einen phänomenalen Durchbruch in der Benzodiazepin-Forschung schaffte - und für Roche einen unglaublichen, über lange Jahre dauernden Milliarden-Aufschwung.

Leo Sternbach, Autor von 125 Publikationen und Inhaber von 230 US-Patenten, stieg in Nutley vom Gruppenchef über den Abteilungsleiter zum Direktor der medizinischen Chemie auf, wurde mit vielen Ehrungen ausgezeichnet, aufgenommen in die New Jersey Inventors Hall of Fame und vom «Life Magazine» zu einer der 25 bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts erklärt. In der Schweiz ist er unbekannt, obwohl er sich mit einer Schweizerin verheiratete und an der ETH Zürich arbeitete.

Im Rückblick fällt Glanz auf das Leben Leo Sternbachs. Er weiss es und geniesst es mit einer Bescheidenheit, die den Stolz übertrifft. Noch heute nimmt er jedes Lob für seine Leistungen als eigentlich unverdient entgegen: er, der grosse Chemiker, dem das Chemiestudium verboten wurde. Der polnische Antisemitismus wollte die berufliche Laufbahn als Apotheker bestimmen. Leo Sternbach beugte sich realistisch gefasst dem «numerus nullus», der in Chemie und Medizin für Studenten seines Glaubens galt. Doch die Beugung brach den Willen nicht, im Fach seiner Begeisterung und Liebe zu reüssieren.

Leo Henrik Sternbach kam am 7. Mai 1908 als erstes Kind eines polnischen Juden und einer ungarischen Jüdin in Abbazia zur Welt. Das Städtchen, einer der mondänsten Kurorte an der Adria, gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zur österreichisch-ungarischen Monarchie, wurde italienisch, dann jugoslawisch und erlebt heute als kroatisches Tourismuszentrum Opatija eine Renaissance. Sternbachs Vater führte eine eigene Apotheke. In der Familie, im gehobenen Bürgertum etabliert, wurde deutsch gesprochen, weil der Vater nicht Ungarisch konnte, die Mutter nur ungenügend Polnisch. Nachdem Abbazia unter die italienische Flagge gekommen war, wechselte der Sohn ins deutschsprachige Gymnasium nach Villach in Österreich.

Die Familie übersiedelte alsdann unter wesentlicher Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse nach Krakau, wo der Vater im Ghetto mit Mühe eine Apotheke eröffnen konnte. Leo Sternbach besass als Jude und Sohn eines Apothekers lediglich die Möglichkeit, nach der Matur Pharmazie zu studieren. Nach bestandenem Examen gewann er die Fürsprache seines Onkels, der an der Universität Krakau lehrte, um bei Professor Karol Dziewonski das Traumfach Chemie zu belegen und darin 1931 zu promovieren. Mit seinem Doktorvater publizierte er über Benzoylchlorid, was ihn ein Vierteljahrhundert später in den USA zu den Meilensteinen Librium und Valium bringen sollte.

Die Wende zum Besseren kam mit einem Vortrag Professor Leopold Ruzickas von der ETH Zürich, den der junge Chemiker in Wien fasziniert hörte. Er bat den späteren Nobelpreisträger schriftlich um eine Postgraduate-Anstellung. Die rasche Zustimmung öffnete Leo Sternbach 1937 den Weg in die Schweiz.

Zürich war neben den wissenschaftlichen Früchten noch in anderer Hinsicht bedeutend für Sternbach. In Zürich verliebte er sich in die Tochter seiner Zimmervermieterin. 1941 fand die Heirat statt - in Basel notabene, weil Zürich von Ausländern eine horrende Sicherheitszahlung verlangte, die sich das junge Paar nicht leisten konnte. Und dass das amtliche Zürich die damals achtzehnjährige Herta Sternbach-Kreuzer als geborene Stadtbürgerin, Christin und frischgebackene Polin zur «tolerierten Ausländerin» stempelte und aufforderte, so schnell als möglich die Schweiz zu verlassen, sei hier am Rande und nicht auf einem Ruhmesblatt vermerkt.

Abschied von Zürich

Leopold Ruzicka stärkte ihnen den Rücken und bot Hilfe. So sicherte er Leo Sternbach - wie vielen anderen - eine Forschungsarbeit und vermittelte ihm bei der Basler Roche, die sich als eine der Ausnahmen aktiv prosemitisch verhielt, eine Anstellung als Chemiker, die allen Beteiligten Glück bringen sollte. Im Rahmen eines Schutzprogramms für Juden konnte Sternbach mit seiner Frau im Frühsommer 1941 nach Nutley westlich New Yorks übersiedeln, wo die Sternbachs heute noch im damals gekauften Haus leben.

Ein erster wissenschaftlicher Höhepunkt gelang Sternbach in den vierziger Jahren mit der synthetischen Herstellung von Biotin, einem schwer zugänglichen B-Vitamin. «Das Gelingen kommt aus der Liebe zum Fach und der völligen Hingabe, wie sie auch dem wahren Künstler eigen ist», sagt Sternbach. Biotin, Librium und Valium sind die Namen, die eine umfassende Lebensleistung bezeichnen.

Er wurde 1973 in finanzieller Bequemlichkeit bei Roche pensioniert. Seither besitzt er den Status eines Beraters mit einem eigenen Büro. Hier setzt er sich von Montag bis Freitag an seinen mit Papierstössen beladenen Schreibtisch. Herta Sternbach sagt: «Leo ist Chemiker mit Leib und Seele.»

Der Publizist Alex Bänninger bereitet gegenwärtig eine Biographie des Forschers vor. Er realisierte auch zusammen mit Rolf Lyssy den dieses Jahr in Solothurn uraufgeführten Film «Eine Liebe zur Chemie - Leo Sternbach».

Risiken und Nebenwirkungen: Schlaf und Ruhe, die süchtig machen können

Librium und Valium gehören als Tranquilizer zu den Benzodiazepinen. Sie sind Psychopharmaka und als solche Arzneimittel, die auf die seelischen Funktionen durch Modulation der Nervenzellaktivität im Gehirn einwirken und vor allem der Behandlung von psychischen und psychosomatischen Krankheiten dienen.

Therapien mit Benzodiazepinen sind immer symptomatisch, das heisst die Ursachen einer psychischen Krankheit werden nicht beeinflusst, nur deren Symptome. Vielfach wird es erst darnach möglich, eine Behandlung der auslösenden Krankheit einzuleiten. Missbräuchliche Verwendung und bedenkenlose Medikation können zur Abhängigkeit führen.

Gerade die grosse Suchtgefahr hat die Skepsis gegenüber den Medikamenten Valium und Librium wachsen lassen. Zudem verhelfen die Stoffe, als Schlafmittel verwendet, nicht zu einem «natürlichen» Schlaf, sondern reduzieren den Anteil der für die Erholung wichtigen REM-Phasen an der Schlafdauer um beinahe die Hälfte.

Obwohl der Gebrauch von Benzodiazepinen seit den späten siebziger Jahren zurückgegangen ist, sind sie immer noch eine der meistverordneten Stoffklassen überhaupt. In Deutschland etwa verschreiben allein die Kassenärzte um die 600 Millionen Tagesdosen pro Jahr.

Ruhelosigkeit und Schlaflosigkeit sind ein verbreitetes Volksleiden. Die Forschung geht davon aus, dass allein in der Schweiz 1,75 Millionen Menschen an Schlafstörungen leiden.

NZZ am Sonntag, Ressort Gesellschaft, 31. März 2002, Nr.3, Seite 117

Bereich: Forschung SchlafSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin