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30.06.2002Neue Zürcher ZeitungAndreas Huber / MMA.Von Stern zu Stern fliegen

Von Stern zu Stern fliegen

Über Schlaf und Schlaflosigkeit lässt sich am besten in schlaflosen Nächten sinnieren. Bericht aus der Bettstatt eines Geplagten.

Von Andreas Huber

Ist etwas Qualvolleres vorstellbar, als nicht schlafen zu können? Nur wer selber unter Schlaflosigkeit leidet, weiss, dass es sich dabei um alles andere als um eine rhetorische Frage handelt. Weshalb gibt es Menschen, die ihr ganzes Leben von dieser Krankheit verschont bleiben, und andere, die schon als Kind unter ihr zu leiden hatten? Auf die Frage, weshalb gerade ich zur zweiten Kategorie gehören muss, dürfte wohl nicht einmal Alain de Botton eine Antwort wissen. Heute kann ich mich nicht mehr an all die vielen Fragen erinnern, die mich bereits in meiner frühen Kindheit am Schlafen gehindert haben. Aber die damaligen Qualen der Schlaflosigkeit sind mir noch heute sehr präsent. In den schlaflosen Nächten meiner Kindheit war ich geradezu besessen vom Wunsch, endlich einschlafen zu können, was immer schon das beste Mittel war, das intensiv Gewünschte nicht zu erreichen. Das ist ähnlich erfolgreich, wie nicht mehr denken zu wollen. Oft bis weit über Mitternacht stellte ich mir neidisch die längst schlafenden Schulkameraden vor. Man erträgt es schlecht, wenn andere sorglos schlafen, selber aber dazu nicht fähig ist. Ich war überzeugt, der Einzige zu sein, der unter diesem Problem litt, so wie man als Kind immer befürchtet, nicht so zu sein wie alle anderen.

Heute bin ich überzeugt, dass mein melancholischer Charakter und meine grundsätzlich pessimistische Sicht der Dinge massgeblich in diesen Nächten gebildet worden sein muss. Wer gut schläft, gehört einer Welt an, in der Leute, die schon als Kind nicht schlafen konnten, für immer ausgeschlossen sind. Nicht umsonst spricht man vom Schlaf des Gerechten. Wer gut schlafen kann, wird sich auch kaum mit existenziellen Fragen auseinandersetzen. Der Gesunde analysiert sich nicht. Nur der Kranke macht sich über sich, den Sinn des Lebens und den Tod Gedanken. Ich gehe sogar noch weiter und behaupte, dass nur die Schlaflosen etwas über sich selbst wissen.

Doch auf die Frage, weshalb es Leute gibt, die nie Schlafprobleme haben, und andere, die ihr ganzes Leben damit zu kämpfen haben, gibt es bis heute keine Antwort. Ist es letztlich vielleicht die Angst vor dem Tod, die einen nicht einschlafen lässt? Denn im Schlaf kann man eine Vorahnung darüber erhalten, was Todesangst ist. Im Schlaf bin ich schon sehr früh viele Beinahe-Tode gestorben. Regelmässig suchten mich die immer gleichen Albträume heim, die in irgendeiner Form wohl jeder schon gehabt hat. Bei mir waren es riesige Strassenwalzen, die sich langsam, aber dennoch zu schnell, um davonzukommen, auf mich zubewegten. Während alle anderen sich scheinbar mühelos in Rettung bringen konnten, blieb ich trotz grösster körperlicher Anstrengung wie angeleimt und nach Atem ringend am selben Ort stehen und sah meinen Untergang langsam, aber unaufhaltsam auf mich zukommen.

Während die Körperlosigkeit im Traum wunderschön sein kann - wenn man beispielsweise fliegen kann -, erfährt man sie im Albtraum als totale Unbeweglichkeit. Man möchte schreien, doch man findet nicht die Luft und kann die Lippen nicht bewegen, um den rettenden Schrei auszustossen. Jegliche Kontrolle über die körperlichen Funktionen scheint verloren.

Tod und Schlaf haben in der Tat viele Gemeinsamkeiten. Der Schlaf ist ein Bruder des Todes. «Wer den Tod nicht kennt, muss sich den Schlaf ansehen» heisst es im Sprichwort, und der Philosoph Thomas H. Macho schreibt in seinem Buch «Todesmetaphern»: «Die Unzugänglichkeit und zeitweilige Bewegungslosigkeit des Schläfers erinnert an die rätselhafte ‹Verdinglichung› der Toten.»

Auch der Traum ist ein Bruder des Todes. Der Schlafende findet sich in einer fremden Welt wieder, die den Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten ignoriert. Das Traumland ist vom Totenreich nicht getrennt. Der Wachzustand durch keine logische Kategorie vom Traumzustand zu unterscheiden. «Aber im Traum», sagt Macho, «bin ich allein (. . .). Meine Träume und meine nächtlichen Abenteuer kenne nur ich allein. Neben mir mag ein anderer, ein geliebter, unendlich vertrauter Mensch liegen, ohne das winzigste Detail meiner Traumwahrnehmungen mit mir teilen zu können. (. . .) Diese Privation führt zur Verdoppelung der Welt.»

Neben der Todesangst quälte mich auch die sonderbare Angst, am Morgen nicht mehr aufwachen, sozusagen aus der Doppelwelt nicht mehr zurückkehren zu können. Einmal, es muss in meinem fünften oder sechsten Lebensjahr gewesen sein, als ich bei meiner Grossmutter übernachtete, musste diese zuerst ein mich sehr ängstigendes Christusbild über dem Bett entfernen. Ich hätte unter dem mit Dornen bekränzten Haupt von Christus nicht einschlafen können. Wochen später überkam mich plötzlich die namenlose Angst, in diesem Zimmer nie aufgewacht zu sein. Trotz grösster Anstrengung konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, das Haus der Grossmutter nach dieser Nacht jemals verlassen zu haben. Diese fixe Idee hat mich monatelang verfolgt. Ich stellte mir vor, dass ich immer noch unter dem weissen Fleck, wo das Christusbild hing, im Bett liege und das ganze seitherige Leben nur ein Traum gewesen sei. Bis heute weiss ich nicht, ob ich tatsächlich mein eigenes Leben lebe oder nicht vielmehr nur ein Statist im Traum eines anderen bin. Bin ich jetzt wach, oder ist alles, was mit mir seither geschehen ist, Teil eines komplexen Traums? Was wäre, wenn ich tatsächlich morgen als Sechsjähriger im Haus meiner Grossmutter aufwachen würde?

Weisse Rosen aus Athen

Ich erinnere mich daran, wie in der Anfangszeit meiner Schlaflosigkeit meine Eltern in der Küche Radio Beromünster hörten und leise miteinander schwatzten. Schwach drangen die Lieder des freitäglichen «Nachtexpress» an mein Ohr. Nana Mouskouris «Weisse Rosen aus Athen» werde ich wohl bis an mein Lebensende mit meinen schlaflosen Nächten in der Kindheit in Verbindung bringen. Das aufmerksame Lauschen auf die Geräusche in der Küche war es dann aber oft, das mich langsam ermüdete und mir endlich den ersehnten Schlaf brachte. Später wurden die beruhigenden Radiotöne aus der Küche von anderen Geräuschen aus dem Wohnzimmer abgelöst. Es waren die nervösen, schwieriger einzuordnenden Töne, die aus dem Fernseher kamen. Anfang der siebziger Jahre hatten meine Eltern - wie wohl viele andere Eltern meiner Generation - aufgehört, am späteren Abend gemeinsam Radio zu hören, und sassen stattdessen meist schweigsam vor dem Fernseher.

Die Qual des Nicht-einschlafen-Könnens hat mich auch in meiner Jugend nicht verlassen und bis zum heutigen Tag begleitet, wenn auch weniger häufig. Heute sind es aber weniger Ängste um morgen, die mich nicht einschlafen lassen, als vielmehr Erinnerungen an vergangene Zeiten und an Orte, die ich vor langer Zeit besucht und seitdem nie wieder gesehen habe und in denen ich womöglich gar nie war, Erinnerungen an Menschen, die ich geliebt habe und die mich geliebt haben, Erinnerungen an Bücher, die ich gelesen habe, an Filme, die ich gesehen habe, an Musik, die ich gehört habe.

Je älter ich werde, desto mehr meldet sich die Vergangenheit zurück. Dabei scheint mir die Sehnsucht nach der Vergangenheit, wie sie hätte sein können, schmerzhafter und unerträglicher zu sein als die Sehnsucht nach der tatsächlich gelebten Vergangenheit. In solch quälenden Momenten macht es keinen Sinn, die Augen zu schliessen. Ich weiss zu gut, dass ich doch nicht einschlafen werde. So liege ich mit offenen Augen hellwach im Bett, lasse meinen Blick über die in der von den Strassenlampen gelinderten Dunkelheit als schwarze Schatten erkennbaren Möbel und Gegenstände meines Zimmers schweifen und spüre einen immer schwerer werdenden Druck auf der Brust.

Eingehüllt in meine Decke stelle ich mir für mich allein, also für niemanden, alle möglichen Leben vor. Manchmal stehe ich auf, ohne Licht zu machen, und bewege mich mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit ins Wohnzimmer, ohne mich auch nur irgendwo anzustossen. Ich schiebe eine CD ein, lege mich auf den Boden und höre Musik, wie ich sie am Tag in dieser Intensität noch nie gehört habe.

Über Nacht kam die Erinnerung

An längst vergangenes Glück

Und voller Wehmut stell ich mir

Die Uhr eine Stunde zurück

Ich will dich so gerne vergessen

Und bin dazu doch nicht bereit

Und kaum dass ich dich einmal

wiederseh

Ist der Sommer schon wieder vorbei.

(Sven Regener, Element of Crime)

Jetzt bin ich wacher, als man es am Tag je sein kann. Mein Blick schweift über die graue Zimmerdecke und bleibt im vom Aussenlicht schwach beleuchteten Büchergestell haften. Ich stehe auf, mache das Licht an und nehme wie so oft in schlaflosen Nächten das hellorange Suhrkamp-Buch mit dem schwarzen Streifen aus dem Bücherregal. Es ist E. M. Ciorans «Auf den Gipfeln der Verzweiflung», worin ich zu blättern beginne. Ich finde die Stelle über Schlaf und Schlaflosigkeit und lese mit zunehmender Erregung: «Im Schlaf vergisst du das Drama deines Lebens, die Komplikationen und Obsessionen, so dass jedes Erwachen ein neuer Lebensanfang ist, eine neue Hoffnung. Das Leben erhält auf diese Weise eine angenehme Diskontinuität, die den Eindruck einer ununterbrochenen Regeneration, einer fortwährenden Wiedergeburt erweckt. Schlaflosigkeit führt hingegen zu einem Gefühl der Agonie, einem unheilbaren Albdruck, einer immerwährenden Verzweiflung.»

Kein Wort ist übertrieben

Menschen, die sich nicht vorstellen können, was es bedeutet, nicht schlafen zu können, werden solche Textstellen für reichlich affektiert und überspitzt halten. Alle anderen wissen, dass kein Wort von Ciorans Ausführungen Übertreibung ist. Ich lese weiter: «Der gesunde Mensch, also ein Tier, betrachtet die Beschäftigung mit der Schlaflosigkeit als selbstgefällig und unernst, weil er nicht weiss, dass es nicht wenige gibt, die ein Vermögen für Schlaf ausgeben würden, die das Bett fürchten und ein ganzes Reich für die Unbewusstheit des Schlafes zu opfern bereit wären, dem sie von erbarmungslosem Wachsein und dem Chaos der Schlaflosigkeit brutal entrissen werden. Es gibt innige Bande zwischen Schlaflosigkeit und Verzweiflung. Ich frage mich, ob es Verzweiflung ohne schlaflose Nächte geben kann, ob ein vollständiger Verlust der Hoffnung ohne Mitwirkung der Insomnie überhaupt möglich ist. Der Unterschied zwischen Hölle und Himmel kann nur dieser sein: Im Paradies kann man schlafen, wann man will, in der Hölle niemals.»

Neben der schieren Verzweiflung können einem schlaflose Nächte gleichzeitig aber auch sehr luzide Momente bescheren. Die besten und klarsten Gedanken hat man oft in Nächten, in denen man nicht schlafen kann. Vielfach, so meint man, ist man nachts zu den scharfsinnigsten Analysen fähig. Wie viele unzählbare druckreife Dialoge mit mir selbst und mit Personen, denen ich schon immer mal meine Meinung sagen wollte, habe ich schon in solchen Nächten gehalten! In diesen fiktiven Gesprächen sieht man sich so eloquent wie nie. Doch noch nie konnte ich einen solchen Dialog in den Tag hinüberretten. Auch alle Versuche, die Gedanken auf Papier zu bringen, missglücken. Sobald ich vor dem weissen Papier sitze, weiss ich nicht mehr, wie man schreibt, und die eben noch bemerkenswerten Eingebungen und Gedanken zerfallen in nichts. Schreibe ich trotzdem etwas auf, ist es mit Sicherheit am nächsten Morgen nichts mehr wert. So ist es besser, diese luziden Momente auszukosten, anstatt sie durch unnütze Schreibversuche zu zerstören.

Ich weiss, dass ich nicht wieder einschlafen werde. Hinter den Fenstern sehe ich mit an, wie es langsam Tag wird. Ich stelle den Cioran zurück und nehme ein weiteres Buch der Bibliothek Suhrkamp aus dem Regal. Auch dieses hat einen orangen Umschlag, aber mit weissem Streifen. Wolfgang Hildesheimer war vermutlich einer der wenigen Menschen, dem es gelungen ist, seine nächtlichen Gedanken aufzuschreiben. Sein wunderbares Buch «Tynset» handelt von einem, der sich in einer schlaflosen Nacht mit seinen Erinnerungen, Ängsten und Hoffnungen auseinandersetzt, und dem der Ortsname Tynset zum erträumten, nie erreichten Ort wird.

Jedem Schlaflosen ist die Lektüre dieses Buches nahezulegen. Ich jedenfalls bin noch nie von der Reise nach dem utopischen Ziel Tynset enttäuscht worden, bei der ich wirklich von Stern zu Stern fliegen kann, um endlich, das ganze Weltall hinter mir lassend, am erträumten Ort anzukommen, wo meine Sehnsucht nach dem Nichts erfüllt wird, «denn jetzt stosse ich tief in die unendliche Vergangenheit, hier gleichbedeutend mit unendlicher Zukunft, und immer gezogen von meiner Sehnsucht, nirgends zu sein, dorthin, wo kein Stern, kein Licht mehr sichtbar ist, wo nichts vergessen wird, weil nichts erinnert wird, wo Nacht ist, wo nichts ist, nichts, Nichts. Dorthin -.»

Andreas Huber, 38, promovierter Geograph, ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am ETH-Wohnforum tätig. Im Herbst erscheint im Seismo-Verlag sein Buch «Sog des Südens. Auswandern im Alter», das auf Grund eines Nationalfonds-Forschungsprojekts über Schweizer Rentner an der Costa Blanca entsteht.

NZZ am Sonntag, Ressort Gesellschaft, 30. Juni 2002, Nr.16, Seite 93

Der geraubte Schlaf kommt teuer zu stehen

Schlaflosigkeit ist ein Volksleiden: Rund 25 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer leiden zeitweise an Schlafstörungen, 10 Prozent klagen gar über chronische Schlafprobleme. Die Somnologie spricht dann von einer eigentlichen Störung, wenn Schlafprobleme während mehr als drei Nächten in der Woche auftreten. Der Forschung sind rund 90 verschiedene Krankheitsbilder bekannt, das Spektrum der Symptome reicht von Schlafwandeln über Zähneknirschen bis hin zu Atemnot.

Allerdings, auch wer im Grunde ungestört zu schlafen vermag, gönnt sich immer weniger Bettruhe: Schliefen die Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts täglich um die 9 Stunden, so sind es heute im Durchschnitt noch deren 7. Der Schlaf hat in seiner angestammten Hegemonie, der Nacht, grosse Konkurrenz bekommen: durch die Wirtschaft etwa, wenn sie Schichtarbeit fordert, aber auch durch die Freizeitindustrie, die mittlerweile ihre Angebote weit in die Stunden nach Mitternacht placiert.

Die grosse Müdigkeit der Massen verursacht einen kapitalen volkswirtschaftlichen Schaden: Auf weltweit 400 Milliarden Dollar jährlich schätzt der Regensburger Schlafforscher Jürgen Zulley die Folgekosten des zivilisationsbedingten Schlafmangels, ein grosser Teil sind Produktivitätsverluste auf Grund von Übermüdung. Aber auch Industriekatastrophen wie die Explosion in der Union-Carbide-Düngerfabrik von Bhopal, der atomare GAU in Tschernobyl oder die Havarie des Tankers «Exxon Valdez» sind gemäss Expertenmeinung auf Übermüdung des Personals zurückzuführen.

Wer genügend schläft, fördert mithin auch das Gemeinwohl. (MMA.)

NZZ am Sonntag, Ressort Gesellschaft, 30. Juni 2002, Nr.16, Seite 94

Bereich: AlltagSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin