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22.09.2002Neue Zürcher ZeitungPaul BiltonSo unausweichlich wie der Uno-Beitritt

So unausweichlich wie der Uno-Beitritt

Längere Ladenöffnungszeiten werden in der Schweiz nicht zu verhindern sein. Sind sie auch nötig?

Paul Bilton

Stellen Sie sich vor: Es ist drei Uhr nachts, Sie können nicht schlafen, vor Ihnen liegt ein anstrengender Tag. Also stehen Sie auf, stellen eine Einkaufsliste zusammen und gehen hinaus in den nächsten Supermarkt, um die schlaflose und vergeudete Nacht sinnvoll zu nutzen - und den Einkauf für die Woche zu erledigen.

Unmöglich? In den meisten englischen Städten können Schlaflose schon jetzt zu jeder Tages- und Nachtzeit einkaufen. Zugegeben, ich kenne niemanden, der jemals um drei Uhr morgens eingekauft hat, aber nachdem grosse britische Supermarktketten verkünden, dass einige ihrer Filialen rund um die Uhr geöffnet sind, ist das durchaus vorstellbar.

Ein ökonomisches Argument lautet, dass die Kosten, einen bis Mitternacht geöffneten Supermarkt sechs, sieben Stunden zu schliessen oder eben durchgehend offen zu lassen, annähernd gleich sind. Doch das stärkste Argument ist der Hinweis auf die Bedürfnisse der Verbraucher.

Bedenklich ist dabei nicht, dass nun für schlaflose Kunden gesorgt wird, sondern die Art und Weise, wie der Einzelhandel unser Leben beeinflusst. Vor Jahren habe ich mit meiner Frau gern einen Einkaufsbummel in der Zürcher Bahnhofstrasse gemacht, weil ich wusste, dass die Geschäfte um vier schliessen und wir, trotz der Kauflaune meiner Frau, würden heimfahren müssen. Inzwischen ist diese Männertortur um eine Stunde verlängert worden. Während ich mich früher an Feiertagen wie Knabenschiessen in Sicherheit fühlen konnte, habe ich heute das Problem, dass viele Geschäfte offen sind.

Früher waren die Schweizer Ladenöffnungszeiten ja so vernünftig. Mittags mussten die Leute anderthalb Stunden Lunchpause einlegen. Heute wird überall in den Städten das Sandwich im Gehen verzehrt, und die Mittagspause ist nur noch eine historische Reminiszenz. Der Sonntag war tatsächlich ein Ruhetag, alle Geschäfte waren geschlossen, und man hatte keine andere Wahl, als in die Kirche zu gehen oder auszuspannen. Heute zeigt ein Blick auf die nächste Tankstelle mit Shop oder in den Supermarkt am Bahnhof, dass Verbraucher und Händler keine Lust mehr haben auszuspannen.

Für manche Kunden mögen längere Öffnungszeiten ganz praktisch sein, den grossen Einzelhändlern passen sie noch mehr. Auch in der Schweiz, wie in den meisten westlichen Ökonomien, müssen die Supermarktketten feststellen, dass der Markt gesättigt ist, die Zahl ihrer Kunden nicht mehr gesteigert werden kann. Die Möglichkeiten, den Umsatz zu steigern und den hungrigen Aktionären etwas anzubieten, sind begrenzt. Die Händler können versuchen, ihren Konkurrenten die Kundschaft abspenstig zu machen, indem sie ihr Warenangebot erweitern. Sie können beispielsweise Arzneimittel in die Regale stellen. Was für kopfschmerzengeplagte Kunden sehr praktisch wäre, da sie nun mit den Kartoffeln zugleich die Aspirintabletten kaufen, ihren Bedarf also unter einem Dach decken können. Auf diese Weise könnten Supermärkte auch einen Teil des Marktes (und des Umsatzes) erobern, der bislang von den Apotheken gehalten wird.

Eine Steigerung des Marktanteils lässt sich aber auch sehr gut durch längere Öffnungszeiten erreichen. Nehmen wir den Tante-Emma-Laden an der Ecke. Die Müllers, denen der Laden gehört, haben weder die finanziellen Mittel und das Personal noch die Bereitschaft, länger und auch an Sonntagen hinter der Ladentheke zu stehen. Sie wollen auf ihre Freizeit nicht verzichten und glauben nicht, dass sie dadurch mehr Umsatz erzielen. Im Gegenteil, die laufenden Unkosten würden steigen, und bei ihren Preisen würden sie keine neuen Kunden gewinnen. Ihre Kundschaft würde die verlängerten Öffnungszeiten zwar schätzen, aber kaum mehr Geld ausgeben. Wenn aber Coop, Migros, Denner, Pick Pay sieben Tage in der Woche rund um die Uhr geöffnet haben und das zu Preisen, mit denen die Müllers schlicht nicht konkurrieren können, dann ist damit zu rechnen, dass die Giganten den Müllers einen Teil der Kundschaft wegschnappen. Die Grossen werden geöffnet und billiger sein, die Müllers dagegen teurer und geschlossen.

Die grossen Einzelhandelsketten werden sicher für längere Öffnungszeiten plädieren. Sie werden auf die Verbraucherfreundlichkeit einer Liberalisierung hinweisen und betonen, dass längere Ladenöffnungszeiten Ausdruck eines modernen Lebensstils sind. Längere Öffnungszeiten sind natürlich auch in ihrem Geschäftsinteresse. Und das Haar in der Suppe wird sein, dass der Verbraucher am Ende weniger Auswahl hat, wenn es immer weniger Tante-Emma-Läden gibt und wir mit dem Angebot des Supermarkts zufrieden sein müssen.

Längere Öffnungszeiten sind ungefähr so, als würde man sein Stammlokal auf einmal im Chaos vorfinden, weil dort umgebaut wird. Ein Plakat verkündet: «Wir bauen für Sie um!» Also für mich ganz bestimmt nicht! Wenn es nach mir ginge, brauchten sie den Laden nicht aufzumotzen, denn ich weiss, wo was ist, und brauchte nicht monatelang Lärm, Schmutz und all die Unannehmlichkeiten zu ertragen, die sich ergeben, wenn man auf einer Baustelle einkauft. Das gilt auch für die Öffnungszeiten. Ich will nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit einen Einkaufswagen vor mir her schieben.

Um zu überleben, müssen Händler auf die Kräfte des Marktes reagieren, und früher oder später wird es auch in der Schweiz längere Öffnungszeiten geben. Genau wie die Mitgliedschaft in der Uno. Es ist unausweichlich. Aber niemand sollte überrascht sein, wenn am Ende die vielen kleinen Geschäfte nicht mehr da sind.

Der Engländer Paul Bilton ist Autor von Büchern über die Schweiz, er lebt in Thalwil.

NZZ am Sonntag, Ressort Meinungen, 22. September 2002, Nr.28, Seite 22

Bereich: LadenschlussSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin