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23.10.2002Neue Zürcher ZeitungSibylle Wehner-v. SegesserDas Ticken der inneren Uhr

Das Ticken der inneren Uhr

Eingebaute Zeitmesser und äussere Zeitgeber

Unsere Körperfunktionen schwingen im 24-Stunden-Rhythmus auf und ab. Gesteuert und koordiniert werden sie von einem Chronometer im Kopf. Neue Arbeiten haben die Kenntnis über das Funktionieren dieser inneren Uhr wesentlich erweitert.

Kommenden Sonntag werden die Uhren auf Winterzeit umgestellt. Wer in den folgenden Tagen erwacht, bevor der Wecker klingelt, und sich abends vorzeitig schläfrig fühlt, kann das auf einen Mini-Jetlag abschieben, lässt sich die biologische Uhr doch nicht so schnell verstellen wie die Zeiger einer Bahnhofuhr. Den meisten dürfte jedoch die Umstellung auf die Winterzeit weniger Probleme bereiten als jene auf die Sommerzeit. Während wir im Frühling eine Stunde opfern müssen, gewinnen wir im Herbst eine hinzu. Das kommt der Neigung unserer biologischen Uhr entgegen, die Tage über die Länge von 24 Stunden hinaus zu dehnen. Ähnliches erleben wir auch beim «richtigen» Jetlag nach der raschen Überquerung mehrerer Zeitzonen: Flüge in Richtung Westen führen meist zu geringeren Problemen als solche gen Osten, die den Tag verkürzen.

Der Preis der Freiheit

Dass der Mensch über eine innere Uhr verfügt, die auch unabhängig von äusseren Zeitgebern läuft, zeigten bereits eindrückliche Versuche, die in den 1960er Jahren in einem unterirdischen Bunker nahe des bayrischen Klosters Andechs durchgeführt wurden. Obwohl die Probanden in diesem Raum weder über Uhren noch über Radios oder andere Anhaltspunkte für den äusseren Tagesrhythmus verfügten, hielten sie wochenlang einen regelmässigen Schlaf-Wach-Rhythmus ein. Auch ihre Körpertemperatur, ihre Hormonspiegel und viele andere Körperfunktionen schwankten tagesrhythmisch. Allerdings dehnte sich ihr subjektiv empfundener Tag samt allen physiologisch vermessenen Grössen mit der Zeit auf durchschnittlich 25 Stunden aus und geriet damit aus dem Takt der Tageszeiten in der Aussenwelt. Alle höheren Lebewesen - von Pflanzen über Insekten bis hin zu den Säugetieren - verfügen über ein internes Zeitmesssystem. Da diese Uhr immer etwas zu schnell oder zu langsam, also nicht exakt im 24-Stunden-Rhythmus, läuft, spricht man von zirkadianen Rhythmen (circa dies, ungefähr ein Tag).

Normalerweise synchronisieren äussere Zeitgeber - allen voran das Tageslicht - die innere Uhr täglich neu mit dem Sonnenlauf. Denn nur im Einklang mit dem 24-Stunden-Rhythmus der Erdumdrehung können Lebewesen ihre artspezifischen Verhaltenszyklen «vorausschauend» planen: Nachttiere wissen, wann es Zeit wird für die Futtersuche, tagaktive Tiere ziehen sich rechtzeitig an ihren sicheren Schlafplatz zurück, und Pflanzen entfalten ihre Blüten dann, wenn sie am ehesten von bestäubenden Insekten besucht werden. Allein die Spezies Homo sapiens glaubt, sich dem naturgegebenen Tageslauf entziehen zu können. Seit der Erfindung des elektrischen Lichts machen wir die Nacht zum Tag. Mit Flugzeugen gelangen wir innert Stunden in andere Zeit- und Klimazonen. Doch die von der Evolution geprägte innere Uhr passt sich einer neuen Tagesperiodik nur zögernd an, ihre Zeiger lassen sich nicht um mehr als etwa eine Stunde pro Tag verstellen. Überhaupt nicht mithalten kann unser innerer Chronometer mit einem ständig wechselnden Lebensrhythmus, wie er zum Beispiel für Schichtarbeiter typisch ist. Nicht umsonst leiden solche Menschen vermehrt unter Schlafstörungen und sind überdurchschnittlich häufig krank. Wie Beobachtungen an Tieren nahelegen, kann ein unregelmässiger Rhythmus möglicherweise auch das Leben verkürzen.

Ein molekulares Uhrwerk

Wie bereits seit 30 Jahren bekannt, tickt die Hauptuhr bei Säugern im Kopf: genauer im Hypothalamus an der Stelle, an der sich auf der Höhe der Nasenwurzel die Sehbahnen kreuzen. Dieser suprachiasmatische Kern oder Nucleus suprachiasmaticus (SCN) - ein Gebiet von etwa zwei Millimetern Durchmesser - ist es, der allen rhythmischen Körperfunktionen wie Schlaf-Wach-Zyklus, Körpertemperatur, Blutdruck oder Hormonausschüttung den Takt diktiert und ohne den das fein abgestimmte Auf und Ab der verschiedenen Körperfunktionen zusammenbricht.

Ein tieferer Blick ins Innere des Uhrwerks öffnete sich jedoch erst, als man bei der Taufliege Drosophila - und später auch bei Säugern - die sogenannten Uhren-Gene entdeckte. Im Lauf der letzten Jahre gelang dann der eigentliche Durchbruch: Schlag auf Schlag wurde klar, dass alle biologischen Uhren nach einem universellen molekularen Mechanismus funktionieren, der auf dem rhythmischen Aktivitätsmuster einiger weniger Gene beruht. In jeder der etwa 20 000 Zellen des suprachiasmatischen Kerns pulsiert eine solche Uhr. Es ist dieser Rhythmus der im Gleichtakt schwingenden SCN-Zellen, der alle tageszyklischen Abläufe im Körper koordiniert, die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin in der Zirbeldrüse ebenso wie die physiologischen Rhythmen von Leber, Nieren und Lungen.

«Sehzellen» der dritten Art

Seit wenigen Monaten glaubt man auch zu wissen, wie die Lichtsignale der Aussenwelt die Uhr im suprachiasmatischen Nukleus synchronisieren. Schien es lange Zeit fast selbstverständlich, dass die Stäbchen und Zapfen unserer Netzhaut - also die Sehzellen, die die Umwelt abbilden - allein als Lichtsensoren dienen, geriet diese Annahme zusehends ins Wanken. Etwa die Hälfte aller blinden Menschen zeigt trotz offensichtlich fehlender Sehfunktion einen mit der Aussenwelt synchronisierten Körperrhythmus. Auch Mäuse, in deren Netzhaut Stäbchen und Zapfen auf Grund einer genetischen Manipulation gänzlich fehlen, bleiben im Rhythmus. Sollte das Auge etwa über ein zusätzliches Lichtmesssystem verfügen?

In einer Meisterleistung wissenschaftlicher Detektivarbeit gelang es jetzt fünf Forschungsgruppen fast gleichzeitig, die Lichtsensoren der zirkadianen Uhr dingfest zu machen: Es handelt sich um spezielle Ganglienzellen in der Netzhaut, die ein Protein namens Melanopsin produzieren. Generell bilden Ganglienzellen eine Zwischenstation auf dem Weg der Nervensignale von den Stäbchen und Zapfen ins Gehirn. Ein kleiner Teil (etwa zwei Prozent) von ihnen steht über Nervenfasern in direkter Verbindung mit dem suprachiasmatischen Kern. Die neuen Arbeiten zeigen nun, dass genau diese Ganglienzellen Melanopsin enthalten und dass sie direkt, das heisst unabhängig von den Stäbchen und Zapfen, auf Lichtreize reagieren und die dadurch ausgelösten elektrischen Signale an den SCN senden. Wenn also nicht alles täuscht, sind es diese vorher unbekannten Lichtdetektoren der Netzhaut, die allein oder im Verbund mit weiteren Messsystemen die innere Uhr im suprachiasmatischen Kern synchronisieren. Zusätzlich scheint dieses Detektorsystem auch andere lichtabhängige Vorgänge - etwa die Pupillenreaktion - zu steuern.

Das neue Konzept von zwei unabhängigen Lichtkanälen im Auge - eines für die Bildwahrnehmung und eines als Helligkeitsmesser für die innere Uhr - hat die unmittelbare medizinische Konsequenz, dass erblindeten Menschen die Augäpfel nicht mehr entfernt werden sollten. Längerfristig wäre es denkbar, dass sich über das neu entdeckte Helligkeitsmesssystem Störungen des biologischen Rhythmus, auch des Jetlags, gezielt behandeln lassen.

Die Uhr tickt nicht nur im Kopf

Gesundheit und Wohlbefinden hängen nicht nur von der Synchronisation der SCN-Hauptuhr mit der Aussenwelt ab, sondern auch von einer optimalen Abstimmung aller übrigen Rhythmen im Körper. Diese innere Synchronisation wurde zu einem wichtigen Forschungsthema, seitdem man weiss, dass nicht nur im suprachiasmatischen Kern, sondern überall im Körper Uhren ticken. Auch wenn diese «Sklavenuhren» der Hauptuhr unterstellt sind, verfügen sie doch über eine gewisse Eigendynamik. Zellen aus Leber, Lunge oder Niere, die isoliert und damit dem Einfluss des SCN entzogen wurden, oszillieren biochemisch noch tagelang im zirkadianen Rhythmus weiter. Wie vergleichende Untersuchungen mit Methoden der modernen Genomik zeigen, arbeiten diese «Sklavenuhren» nach dem gleichen molekularen Prinzip wie die SCN-Uhr, doch sind teilweise andere Gene im Spiel.

Neu und erst in Ansätzen verstanden ist die Beobachtung, dass sich untergeordnete Uhren teilweise von der Hauptuhr abkoppeln lassen. Bei Ratten wird zum Beispiel die Leberuhr verstellt, wenn man die Tiere zur «Unzeit» - etwa während ihrer Schlafphase - füttert. Da die Hauptuhr weiterhin synchron mit dem Hell-Dunkel-Zyklus tickt, entkoppeln sich die Uhren intern. Neben dem Licht als wichtigstem Zeitgeber können also auch Verhaltensweisen wie unzeitgemässe Nahrungsaufnahme auf die inneren Rhythmen Einfluss nehmen. Auf den Menschen übertragen, würde das bedeuten, dass Mahlzeiten zur «falschen» Zeit - beispielsweise bei Schichtarbeit oder während und nach Transatlantikflügen - zu inneren Desynchronisationen führen. Durch geeignete Mahlzeitenregime sollte sich diese vermindern lassen.

An den Stellrädchen schrauben

Die neuen Einblicke in die Steuermechanismen biologischer Uhren und deren Verzahnung versprechen über kurz oder lang auch medizinischen Nutzen. Medikamente, mit denen sich gezielt an den Stellrädchen einer molekularen Uhr schrauben lässt, könnten Schlafstörungen und bestimmte psychische Krankheiten kurieren helfen, denen defekte biologische Rhythmen zugrunde liegen. Auch die bereits heute praktizierten Lichttherapien liessen sich auf Grund der neuen Erkenntnisse weiter verbessern. Noch in den Anfängen steckt die neue Disziplin der Chronomedizin, die therapeutische Massnahmen durch Abstimmung auf die inneren Rhythmen zu optimieren sucht. Laut Studien mit Krebspatienten scheint es zum Beispiel möglich, durch eine angepasste Verabreichung von Chemotherapeutika nicht nur die Nebenwirkungen der Behandlung zu vermindern, sondern auch deren Wirkung zu steigern.

Sibylle Wehner-v. Segesser

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Forschung und Technik, 23. Oktober 2002, Nr.246, Seite 69

Gene geben den Takt an

S.W. Kompliziert und bestechend elegant greifen die Räder des zirkadianen Uhrwerks ineinander. Wie Untersuchungen an der Taufliege Drosophila und in jüngster Zeit auch an Säugern zeigen, sind es geregelte molekulare Abläufe im Zellinnern, die die Uhr zum Ticken bringen. Im Rhythmus von ungefähr 24 Stunden wiederholt sich Tag für Tag das gleiche Spiel: Ein erstes Team von zwei Genen wird aktiv, das heisst produziert seine spezifischen Eiweisse (Proteine). Sobald die Eiweissmoleküle im Zellplasma eine gewisse Konzentration erreicht haben, schliessen sie sich paarweise zusammen, wandern in den Zellkern und stoppen dort die Aktivität ihrer eigenen Gene. In diese negative Rückkoppelungsschleife greift ein zweites Team von Genen ein, deren Proteine (als sogenannte Transkriptionsfaktoren) die Gene von Team 1 anschalten. Nach einer gewissen Zeit werden diese Team-2-Transkriptionsfaktoren von den Team-1-Proteinen jedoch lahmgelegt und so an der weiteren Aktivierung der Team-1-Gene gehindert: Die Gene des ersten Teams werden abgeschaltet. - Nach einer Weile treten frisch gebildete Transkriptionsfaktoren (Team-2-Proteine) in Aktion und schalten die Team-1-Gene wieder an. Der Zyklus beginnt von neuem.

Diese Uhren-Gene und die Art, wie sie reguliert werden, weisen bei Drosophila und Säugern verblüffende Ähnlichkeiten auf. Bei Drosophila wird Team 1 von den Genen Period (Per) und Timeless (Tim), Team 2 von Clock (Clk) und Cycle (Cyc) gebildet. Bei Säugern sind es Gene mit teils homologer, teils abweichender Struktur, die die gleichen Aufgaben erfüllen. Einzelne Gene treten in mehreren Varianten auf, womit sich die Abläufe insgesamt komplexer darstellen als bei Drosophila.

Wie direkt die zirkadiane Rhythmik vom Funktionieren des molekularen Uhrwerks abhängt, zeigen Mutationen in einzelnen Uhren-Genen, die den Zyklus verkürzen, verlängern oder gar völlig zerstören. Vor kurzem wurde beim Menschen eine Gen-Mutation (im Per2-Gen) gefunden, die für das Syndrom des vorgezogenen Schlafs verantwortlich ist: Die Betroffenen werden abends vorzeitig schläfrig und erwachen morgens zu früh. Vermutlich verdanken auch die notorischen Frühaufsteher und typische Nachtwächter ihre Veranlagungen kleinen Abweichungen in einem Uhren-Gen.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Forschung und Technik, 23. Oktober 2002, Nr.246, Seite 69

Bereich: Forschung NachtaktivitätSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin