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17.07.2001Neue Zürcher ZeitungGordana Mijuk«Für mich ist am Tag immer Nacht»

«Für mich ist am Tag immer Nacht»

Nachtarbeit in einem 24-Stunden-Tankstellen-Shop

Im 24-Stunden-Tankstellen-Shop in Wollishofen, in dem rund um die Uhr die Kundschaft ein und aus geht, arbeitet Selim Karasniqi seit drei Jahren in der Nachtschicht. Seither sind seine Nächte Tage, auch wenn er frei hat.

Als Selim Karasniqi seinen Arbeitskollegen hinter der Kasse ablöst, ist der Laden voller Kunden, die Warteschlange knapp zwei Meter lang. Diejenigen, die kein Einkaufskörbchen zu Hilfe genommen haben, balancieren Chips, Bier, Joghurts und Melonen in den Händen, das Pariser Brot haben sie sich unter die Arme geklemmt. Obwohl Selim schnell und geschickt die Produkte einscannt, die Plastictüten füllt und fast schon blind nach der richtigen Zigarettenmarke greift, reisst die Warteschlange nicht ab. Immer neue Kunden treten in den Laden. Viele sind nicht zum ersten Mal hier, steuern zielstrebig zum Kühlschrank mit den Getränken oder in die Ecke, wo die Bierkartons aufgestapelt sind. Selim steht hinter der Kasse des 24-Stunden-Tankstellenshops der BP in Zürich Wollishofen und hat gerade seine Nachtschicht begonnen. Es ist Freitag kurz nach 22 Uhr. Selims Schicht dauert bis 6 Uhr morgens.

Viele Freunde verloren

Selim ist 36 Jahre alt und stammt aus Kosovo. Seit drei Jahren arbeitet er im Tankstellen-Shop, von Anfang an in der Nachtschicht. «Als ich bei BP begann, durften Frauen noch keine Nachtschicht machen. Männer waren gesucht», sagt Selim. Als er vor 13 Jahren in die Schweiz kam, arbeitete er zunächst jahrelang als Monteur, bis er seine Stelle verlor. Erlernt hat er in seiner Heimat den Beruf des Elektrotechnikers. Auch in dieser Nacht arbeiten nur Männer, vier sind es insgesamt. «Da manchmal nachts auch Betrunkene in den Laden kommen, ist es besser, wenn Männer da sind», erläutert er knapp. Neben Selim steht ein zweiter Mann hinter einer Kasse, ein weiterer bedient die Kundschaft im Bistro. Viele der Kunden kennen Selim persönlich, oft schütteln sie ihm die Hand. «Ich hab durch den Job viele neue Leute kennengelernt, doch habe ich auch viele meiner alten Freunde verloren», sagt Selim.

Er versuche diese zwar so oft wie möglich zu treffen, die meisten seien aber bei der Arbeit, wenn er frei habe, oder hätten dann Zeit, wenn er gerade im Shop die Kunden bediene. «Wenn ich meine Freunde dann einmal treffe, muss ich sie nach kurzer Zeit wieder verlassen, um rechtzeitig bei der Arbeit zu sein.» Nach der Arbeit fahre er jeweils gleich nach Hause und lege sich schlafen. Da es am Tag länger dauere, bis man sich erholt habe, brauche er mindestens acht Stunden Schlaf. Viel Zeit fürs Privatleben bleibt da nicht. «Der Job ist okay für eine gewisse Zeit, nicht aber für immer.»

Grosser Andrang auch nach Mitternacht

Mitternacht ist lange vorbei. Im BP-Shop ist es gerade ein wenig ruhiger geworden. Doch die Ruhe ist trügerisch, aufs Mal stehen wieder mehr als ein Dutzend Kunden im Laden. Selim ist vom plötzlichen Ansturm unbeeindruckt. «Am Wochenende läuft es rund um die Uhr.» Wann wie viele Leute kämen, sei unterschiedlich und unberechenbar. Immer wieder kontrolliert er auch, ob die Kunden ihre Getränke und Brötchen und das getankte Benzin bezahlen. «Es gibt Leute, die tanken auf und bezahlen im Laden nur die Süssigkeiten», erklärt Selim kopfschüttelnd.

Die meisten der Kunden in dieser Nacht sind jung und ohne Wagen unterwegs. Sie sind auf dem Weg in die Rote Fabrik oder kommen vom nahe gelegenen See. Viele von ihnen kaufen Bier oder süsse Getränke mit Alkohol. Immer wieder kommen auch ältere Leute im Anzug, die den Tank ihrer Autos füllen, Zigaretten und Süssigkeiten kaufen. Im Shop läuft Musik, man hat das Gefühl, es sei mitten am Tage irgendwo in einem Einkaufszentrum. An den Tischchen vor dem Bistro führen ein paar Frauen angeregt Gespräche. Vor der Tankstelle stehen ein paar Punks, die sich von Zeit zu Zeit ein Bier holen. Selim schaut sie nachdenklich an. «Die arbeiten nicht.»

Auch die Schwäne schlafen in der Nacht

«Für mich ist es am Tag Nacht und in der Nacht Tag, immer», sagt er. Auch an seinen freien Tagen schlafe er tagsüber und wache nachts. Um wieder auf Tag umzustellen, brauche er mindestens drei Tage. «Wenn ich frei habe, ist es am schlimmsten», sagt Selim. Natürlich gehe er an seinen freien Abenden oft aus, doch blieben ihm danach noch Stunden bis zum Schlafengehen. «Würde ich um zwei Uhr in der Nacht joggen gehen, hielten mich die Leute für verrückt», meint er. Meistens schaut er fern. Auch am Morgen ist sein nächtlicher Rhythmus unvereinbar mit demjenigen der Gesellschaft. Wenn er sich etwa auf dem Heimweg von der Arbeit mit seinem Arbeitskollegen unterhalte, seien vielen Fahrgästen ihre Gespräche zu dieser Tageszeit zu laut. «Uns treffen immer wieder verärgerte Blicke», erzählt Selim schmunzelnd.

Keine Zeit zum Umstellen

Während es draussen ein wenig rieselt, ist es im Laden ruhiger geworden. Selim geht hinaus und zündet sich eine Zigarette an. «Es sind immer eilige Kunden da, die schnell bedient werden wollen, deshalb können wir nie lange Pause machen», sagt Selim. Die Leute seien verärgert, wenn nur eine Kasse besetzt ist. Für eine ruhige Mahlzeit sei deshalb selten genügend Zeit vorhanden. Selim isst zwischendurch ein Sandwich. «Richtig esse ich meistens vor der Nachtschicht. Nach der Arbeit trinke ich dann noch eine Tasse warme Milch, das beruhigt», sagt er. Der Strom der Nachtschwärmer lässt erst nach vier Uhr ein wenig nach. Nun beginnen die Mitarbeiter des Shops vermehrt die Regale aufzufüllen, sie nehmen die Böden auf, sammeln die Papierchen rund um den Shop ein. Selim sieht dem Ende seiner Nachtschicht heute mit besonderer Freude entgegen. Er hat die nächsten drei Tage frei genommen und möchte sie mit seiner Freundin in Mailand verbringen. Zum Umstellen auf den Tag reicht diese Zeit allerdings nicht.

Gordana Mijuk

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Zürich und Region, 17.Juli 2001, Nr.163, Seite 39

Bereich: NachtarbeitSponsor: Nachtaktivbearbeitet von: merlin